Moritz Csáky: Das kulturelle Gedächtnis der Wiener Operette. Regionale Vielfalt im urbanen Milieu. – Wien: Hollitzer, 2021. – 351 S.
ISBN 978-3-99012-950-0 : € 40,00 (geb.; auch als eBook)
Operette. Die klassische historische Musikwissenschaft verschmähte sie als werkanalytisch unergiebig und marginalisiert sie grosso modo bis heute. Beim Wort nahm sie neben einer dem leichteren Genre nicht eben wohlwollenderen Soziologie erheblich unvoreingenommener die Literaturwissenschaft, die mit den bahnbrechenden Arbeiten etwa von Volker Klotz oder den kritisch kontextualisierenden Monographien von Stefan Frey, musikologisch dann auch flankiert von Norbert Linke u.a., Operette exemplarisch zu einem ernstzunehmenden Kulturphänomen erhob. Nicht weniger imponierend tat dies 1996 ein Grandseigneur der österreichischen Kultur- und Geschichtswissenschaft: der 1936 geborene Moritz Csáky, Professor an der Universität Wien (1967–1984), dann Ordinarius für österreichische Geschichte in Graz bis zur Emeritierung 2004.
Der 1996-er Essay Ideologie der Operette und Wiener Moderne erschien in diversen Übersetzungen. Die zweite Auflage von 1998 legte Csáky nun einer aktualisierten und erweiterten Version zugrunde, die allein dank Neubetitelung mit Betonung des kulturellen Gedächtnisses zu Csákys angestammtem Forschungsgebiet, den kulturhistorischen Entwicklungen Zentraleuropas in der Moderne, aufschließt und sich inhaltlich berührt mit seinen auch hier ausgiebig verwerteten Forschungsarbeiten wie der 2019-er Publikation Das Gedächtnis Zentraleuropas. Kulturelle und literarische Projektionen auf eine Region.
Breit rezipierte Unterhaltungsgenres wie die Wiener Operette um 1900 spiegeln in Csákys Ansatz die soziale, politische und kulturelle Konstitution eines Publikums, dessen Wünsche, Sehnsüchte und Unterhaltungsbedürfnisse den Produzierenden durch Erfahrung wie auch Feedback bekannt war. Wechselseitige Impulse erzeugten Synergieeffekte, die sich für die Protagonisten wie Franz Lehár oder Emmerich Kálmán in klingende Münze verwandelten. Gerade dies schmälert keineswegs ihre kulturhistorische Relevanz. Eine „Kontextualisierung“ durch Blick auf die gesellschaftlichen Entstehungsbedingungen definiert Csáky begriffsspezifischer als „Rekontextualisierung“ – ein von gegenwärtigen Perspektiven abstrahierendes, den Gegenstand quasi ethnologisch als zunächst Fremdes betrachtendes Einsehen „in das soziale, politische und kulturelle Bewusstsein sowohl einer früheren als auch, indirekt, der eigenen Zeit“. (S. 47)
Leitthematischer Background sämtlicher Fokussierungen auf das Zeit- und Geschichtssymptom Operette ist die geographische, demographische und administrative Struktur der Donaumonarchie vor und um 1900: ein heterogener, fragmentierter, interagierender, vielschichtiger und facettenreicher Verbund zentraleuropäischer Völkergruppen, die sich unter dem Dach Österreich–Ungarn mental mit dem Habsburgerreich identifizieren, doch zentraler Lenkung durch Wien – vereinfacht gesagt – mit autonomen Verwaltungs- und Regierungsformen behaupten können. Die Industrialisierung im 19. Jahrhundert forcierte den Wandel Wiens in Richtung Moderne. Aus allen Himmelsrichtungen des Reiches strömten die verschiedensten Ethnien vom Land in die Metropole. Aus einem vermögenderen liberalen Bildungsbürgertum, das die Operetten der Johann Strauß oder Carl Millöcker frequentiert hatte, entwickelte sich eine breit gestreute urbane Mittelschicht, laut Csáky „vornehmlich Vertreter des Kleingewerbes, Handwerker und Kaufleute, die in der wirtschaftlichen Rezession und Stagnation der Jahre nach 1873 (Börsenkrach) in den ökonomisch Arrivierten der alten Bourgeoisie (…) ihre Hauptkonkurrenten erblickten.“ (S. 72) Ihre Alltagsprobleme und Traumschlösser fanden sie in der Operette reflektiert, wenngleich stilisiert in Ironie und Persiflage auf den degenerierenden Adel (man lachte mithin über die eigenen Aufstiegsambitionen), musikalisch angereichert durch eine Palette folkloristischer Anleihen, kommunikativer Codes, die jedem Wahlwiener eine Reminiszenz an die Heimat bot. Paradewerk der modernen Operette wurde nach dem Dahinsiechen der lokal-biederen Strauß-Nachfolge Lehárs Lustige Witwe 1905.
Eine rezensierende Quintessenz von Csákys großangelegter Studie versagt zwangsläufig vor dem respektheischenden Reflexionsgrad, der Fülle an zitierten und rekurrierten Primärquellen und wissenschaftlichen Positionen aus Philosophie, Dichtung, Journalismus, Geschichts- und Kulturtheorie, Musik- und Theaterpraxis (Csákys Plus: Ungarnaffinität). Durchgehend anspruchsvoll und zum Mitdenken fordernd, changiert die textliche Dramaturgie zwischen informationsdichten Satzapparaten mit kommunikationstheoretischer Terminologie und konkreten Anschauungsbeispielen.
In der Kapitelfolge schließt sich an eine Legitimation des Forschungsobjekts Operette deren Relation zur bürgerlichen Gesellschaft sowie ihre Funktion als Spiegelbild von Gesellschaft und Politik. Kommt die Ironie der Operette zur Sprache in Bezug auf die Psychologie des Witzes nach Sigmund Freud, den jüdischen Witz und die österreichische Travestie-Tradition („Austromasochismus“), erhellt sich der Kontext Wiener Moderne mit Positionen von Hermann Bahr, Hugo von Hofmannsthal oder Robert Musil. Exkursartig konzipieren zwei Kapitel zur Heterogenität und Pluralität Zentraleuropas eine formidable Geschichtstheorie für Österreich damals und heute. Der Konnex des theoretischen Überbaus mit dem Genre gelingt beispielhaft, doch mit Hinweis auf Forschungsdesiderate, bei Schlaglichtern in die Operettenwerkstatt Strauß‘ und Lehárs.
Den Mehrwert seiner Operetten-Analyse (ohne Notenbeispiel!), deren Fazit er mit Blick auf unsere digitalisierte und globalisierte Gegenwart für die Neuauflage modifiziert hat, stiftet neben „der Erkenntnis eines spezifischen, historisch bedingten, erinnerten kulturellen Gedächtnisses die Akzeptanz einer performativ, kontinuierlich sich verändernden multipolaren Mehrfachidentität.“ (S. 312)
Andreas Vollberg
Köln, 29.12.2021