Eva Erben: „Den Himmel berühren“. Die Musikpädagogin Frieda Loebenstein (1888–1968). – Augsburg: Wißner, 2021. – 385 S.: s/w-Abb., Ill., Notenbsp. (Forum Musikpädagogik ; 152)
ISBN 978-3-95786-260-0 : 39,80 € (geb.)
Die Reformen, die in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts den schulischen und außerschulischen Musikunterricht prägten, werden meist mit ‚großen‘ Namen wie Hermann Kretzschmar, Leo Kestenberg, Georg Schünemann, Hans Mersmann und Fritz Jöde verbunden. Dass auch Frauen diese Bewegung entscheidend geprägt haben, wird erst seit einigen Jahren ans Licht geholt und wissenschaftlich aufgearbeitet. Anna-Christine Rhode-Jüchtern hat Arbeiten zu Charlotte Schlesinger und Maria Leo (kürzlich mit einer umfangreichen Monographie) vorgelegt; Walter Heise und Silke Kruse-Weber wiesen 2003 und 2005 erstmals ausführlich auf Frieda Loebenstein hin. Die genannten Pädagoginnen waren jüdischer Herkunft – ein weiterer Grund für spätere Generationen, sie zu marginalisieren oder ganz aus dem Gedächtnis der Fachdisziplin zu tilgen. Die Berliner Tagung „Das Lehren lernen“ im Oktober 2021 war deshalb ein wichtiger Impuls, die Geschichte der Musikpädagogik in diesem Punkt zu ergänzen und neu zu gewichten.
Auch das Buch von Eva Erben ist eine willkommene Bereicherung unseres Wissens über die theoretische und praktische Arbeit, die zwischen 1920 und 1933 an Hochschulen, in Seminaren und Fortbildungen geleistet wurde. Frieda Loebenstein war in Berlin seit 1921 Lehrerin für Gehörbildung am Stern’schen Konservatorium, leitete ab 1926 an der Akademie für Kirchen- und Schulmusik Lehrgänge für Volks- und Jugendmusikpflege, wurde im selben Jahr Dozentin für Klaviermethodik an der Hochschule für Musik und übernahm dort 1929 die Leitung der Übungsschule am Seminar für Musikerziehung. Die vielfachen Erfahrungen, die sie mit Kindern und Erwachsenen sammeln konnte, legte sie in zahlreichen Schriften zur Gehörbildung, Klaviermethodik und Tonika-Do-Lehre nieder.
Das Buch – eine Dissertation, die 2019 an der Universität der Künste Berlin angenommen wurde – ist übersichtlich gegliedert in biographische Teile („Die drei Leben der Frieda Loebenstein“) und die Würdigung ihres musikpädagogischen Wirkens, letzteres eingebettet in „zeitgeschichtliche Strömungen“ (Reformpädagogik, Jugendmusikbewegung, Kestenberg-Reform, Frauenbewegung), „Leitgedanken“, Tonika-Do, Handlungsfelder und „Anknüpfung an angrenzende Fachgebiete“ (dies vor allem durch Charakterisierung einschlägiger AutorInnen). Insofern gibt das Buch auch einen guten Überblick über die fächerübergreifenden Einflüsse, die von verschiedenen Disziplinen in die Reformbewegung hineinwirkten. Durch die erstaunlich detaillierte Forschung, die der Verfasserin in Bezug auf das „dritte Leben“ Loebensteins gelang, wird auch das Weiterwirken reformpädagogischer Ansätze sichtbar – nämlich während der fast 40 Jahre, die sie als Nonne in einem Kloster in Brasilien verbrachte und sich dort mit dem Gregorianischen Choral, mit Stimmbildung, Tonika-Do, Klavierpädagogik und Musiktheorie beschäftigte.
Frieda Loebenstein wurde, ebenso wie ihre Kollegin Charlotte Schlesinger am Seminar für Musikerziehung der Berliner Hochschule, von den Nationalsozialisten aus Deutschland vertrieben. Maria Leo blieb, nachdem man ihr 1933 die Leitung ihres privaten Seminars für PrivatmusiklehrerInnen genommen hatte, als Klavierlehrerin in Berlin und entzog sich 1942 der Deportation durch Suizid. Es ist verständlich, dass Veröffentlichungen über diese Frauen angetrieben sind von dem Impuls, ihnen posthum Gerechtigkeit und Anerkennung widerfahren zu lassen. Das Gebot der kritischen Distanz, das auch für eine wissenschaftliche Biographie gilt, bleibt da leicht auf der Strecke. Eva Erben diskutiert die musikpädagogischen Leitlinien Loebensteins nicht, sondern referiert sie lediglich, als seien sie für heutige Musikpädagogik unvermittelt brauchbar. Kritische Kommentare wären beispielsweise angebracht in Bezug auf die (für die Reformpädagogik typische) Sprache, auf schwärmerische Begriffe wie Erlebnis, Wesen, Grundkräfte, Gemeinschaft, schöpferisches Tätigsein usw., die gelegentlich eine unheilvolle Allianz mit politischen Aussagen eingehen. An einer Stelle weicht die Autorin notwendigen Diskussionen sogar ausdrücklich aus: Im Entwurf für eine Übungsschule am Seminar für Musikerziehung schreibt Loebenstein 1932: „Volk[:] Hier wäre das nationale Gefühl, das nationale Erlebnis zu wecken und zu verfestigen an dem grossen deutschen, musikalischen Erbgut“ (zit. S. 188). Die Fußnote hierzu verweist entschuldigend (und unlogisch) auf den Kriegstod von Loebensteins Bruder, erwähnt Eberhard Preußners Auffassung des „Volkhaften“ und schließt mit dem Satz: „Auf diese [terminologische] Problematik soll an dieser Stelle nur aufmerksam gemacht werden, sie wird im Rahmen der vorliegenden Arbeit nicht weiter vertieft“ (S. 189). Ein anderes Beispiel ist Loebensteins rückwärtsgewandtes Frauenbild, das sie u. a. in einem Brief an Juliane Stier formuliert: „Wie wunderbar ist es für Sie, nach aller schweren, sorgenvollen Arbeit für die Familie, nun ganz für Ihren Mann leben zu können, seiner Arbeit Stütze zu sein, an den Problemen der neuen Tätigkeit mitzuarbeiten. Dieses ist das Ideal der Frau, was durch ihre Berufsemanzipation so tief verbannt wurde, aber was ich immer vertreten habe“ (zit. S. 180). Auch hier hat Eva Erben eine Entschuldigung parat: „Man bedenke in diesem Zusammenhang, dass Frieda Loebenstein eine von Gehorsam, Pflichterfüllung und Leistung geprägte Erziehung während der Wilhelminischen Epoche genossen hatte“ (S. 181).
Frieda Loebenstein bleibt – bei diesem Ansatz – als Person makellos, als Musikpädagogin und Autorin unfehlbar. Die abschließenden „Würdigungen und Zeugnisse ihres Wirkens“ berichten folgerichtig und ausnahmslos „von ihrer faszinierenden Persönlichkeit und einzigartigen Ausstrahlung“ (S. 297). Ein kritischer Blick auf Person, Publikationen und Zeitumstände hätte diesem verdienstvollen und lesenswerten Buch gutgetan.
Freia Hoffmann
Bremen, 03.12.2021