Peter Konopatsch: Martin Rosebery d‘Arguto. Dirigent von Arbeiterchören, Stimmbildner, Gesangsreformer [Thomas Schinköth]

Peter Konopatsch: Martin Rosebery d‘Arguto. Dirigent von Arbeiterchören, Stimmbildner, Gesangsreformer. – Berlin u. Leipzig: Hentrich & Hentrich, 2021. – 84 S.: 15 s/w-Abb. (Jüdische Miniaturen ; 283).
ISBN 978-3-95565-459-7 : € 8,90 (kart.)

Der Name Rosebery d‘Arguto (1890–1942) begleitet mich schon lange Zeit. Erstmals begegnete er mir während meines Musikwissenschaftsstudiums in Leipzig Mitte der 1980er Jahre, als ich über das Arbeitermusikschaffen forschte. Zehn Jahre später wurde er bei Begegnungen mit Paula Salomon-Lindberg (1897–2000) lebendig. Die Sängerin war dem vielseitigen, politisch engagierten Musiker, der sich in besonderer Weise der menschlichen Stimme widmete, persönlich begegnet. Ihr Mann wurde, wie er, später ins KZ Sachsenhausen deportiert, allerdings nach einiger Zeit wieder freigelassen.
Das bewegte Leben von Rosebery d‘Arguto allerdings blieb mir bis vor kurzem weitgehend verschlossen. Dies änderte sich mit der Lektüre des Porträts über den Arbeiterchorleiter, Stimmbildner und Gesangsreformer in der Reihe „Jüdische Miniaturen“. Autor ist Peter Konopatsch (*1966). Seit 2016 ist er Mitarbeiter im Archiv der Akademie der Künste in Berlin, in dem sich eine „Sammlung mit Partituren, Aufsätzen, Programmzetteln, Konzertkritiken, Erinnerungen von Zeitzeugen, Fotos und anderen historischen Materialien zu Leben und Werk“ (S. 83) von d‘Arguto befindet. Die Studie habe ich in einem Atemzug gelesen. Sie ist in jeder Weise bemerkenswert. Peter Konopatsch hat eine Fülle an Quellen neu gesichtet und aus ihnen ein vielschichtiges Persönlichkeitsbild entwickelt. So erfährt der Leser über d‘Argutos Weg hinaus zugleich erstaunlich viel zu Zeitereignissen.
Das Porträt beginnt mit einem „Prolog aus der Hölle“ (S. 6). Ein Mithäftling aus Sachsenhausen, Leon Szalet (1892–1958), der das Konzentrationslager überlebt und später seine Erinnerungen niedergeschrieben hat, schildert eine der zahllosen Schikanen im Lager. Die Gefangenen mussten, von der SS befohlen, die Hände nach oben heben, sich im Kreise drehen und dazu singen. In dieser Situation, so die Schilderung, habe sich Rosebery d‘Arguto gemeldet und gefragt, ob er mit den Häftlingen ein Lied singen dürfe. Er stimmte „Sah ein Knab ein Röslein stehn“ an, Ausdruck seiner Hoffnung, die er immer in sich getragen hat, dass „das Land, das Beethoven, Kant und Goethe hervorgebracht hat“, sich noch besinnen werde …
Martin Rosebery d‘Arguto, wie er sich selber nannte, stammte aus Szreńsk, einem polnischen Dorf, das rund 100 km nordwestlich von Warschau liegt. In der Familie wurde der Sabbat regelmäßig in einer besonders poetischen Weise gefeiert. Beim Kantor der Synagoge lernte der Junge, der als „Sorgenkind“ und „Dickkopf“ galt, Noten und brachte sich selber das Geigenspiel bei, was den Zorn des Vaters hervorrief. Über zionistische Jugendorganisationen fand er zur sozialistischen Idee, der er sich zeitlebens verbunden fühlte. Offenbar in einen Banküberfall verstrickt, musste er, erst 16jährig, fliehen. Wahrscheinlich hielt er sich zunächst in Wien, in Berlin und Mailand auf, bevor er sich endgültig in der deutschen Hauptstadt niederließ.
Auf welche Weise er sich reiche praktische Erfahrungen und ein enormes Wissen über Aspekte der menschlichen Stimme erworben hat, lässt sich noch nicht genau sagen, Adressbucheinträge ab etwa 1914 erwähnen ihn jedenfalls als „Mitglied im Chor des Theaters des Westens“ sowie als „Meisterstimmbildner“ mehrerer Institutionen. Zugleich äußerte er sich in leidenschaftlichen Artikeln für die Wochenschrift „Die Weltrevolution“ zum Zeitgeschehen. Dabei fühlte er sich Rosa Luxemburg (1871–1919) eng verbunden, die er ausdrücklich bewunderte. Wie sie plädierte er für eine gewaltfreie Veränderung der Gesellschaft. Wiederholt wurde Rosebery d‘Arguto wegen politischer Äußerungen verhaftet.
Ein besonderes Wirkungsfeld fand der Musiker Anfang der 1920er Jahre in einem der größten Arbeiterchöre Berlins in Neukölln. Peter Konopatsch beschreibt eindrucksvoll, wie er „mit neuartigen Atem- und Singübungen sowie dezidierten Ansichten zur Stimm- und Gesangstechnik auf neugieriges Interesse, aber auch Widerspruch […] stieß“ (S. 31). D‘Arguto ordnete zunächst einmal fast alle Sänger neu in ihre Stimmgruppen ein, allerdings nicht durch (oft gefürchtetes) Vorsingen, sondern durch einen „gezielten Blick in den Rachen eines jeden Chormitglieds“ (S. 36). Er praktizierte ein – für damalige Verhältnisse keineswegs übliches – ausgiebiges „Einsingen“, das ihm neue stimmliche Möglichkeiten eröffnete. Zudem ließ er die Stimmen viel mehr „aussingen“. Auch mit dem Repertoire erschloss er neue Ausdrucksmöglichkeiten, indem er Mikrointervalle als Zwischentöne einbezog und ebenso wie mit „bedeutungsfreien Silben und Lauten“ (S. 44) neue Farben. Später verband er das Singen noch mit Bewegungs- und Ausdruckstänzen.
Rosebery d‘Arguto muss ein charismatischer Chorleiter gewesen sein, dessen Wirken allerdings auch zu Widerständen führte, die sich in einer ausgedehnten Landtags-Debatte ebenso äußerten wie in der Spaltung der Gesangsvereinigung 1927. Dennoch blieb der Teilchor, den Rosebery d‘Arguto in kurzer Zeit wieder aufbaute, für „viele Mitglieder […] eine familiäre, von gemeinsamen kulturellen, sozialen und politischen Werten getragene, verschworene Gemeinschaft“ (S. 56). Bewegend liest sich das Schicksal Rosebery d‘Arguto im NS-Staat. Wie viele andere jüdische Musiker auch wurde er im August 1935 aus der Reichsmusikkammer endgültig ausgeschlossen, war aber schon vorher in seinen Wirkungsmöglichkeiten stark beschnitten gewesen.
Peter Konopatsch beschreibt den Weg zwischen Vision und Realität, Hoffnung und wachsendem Druck durch Ausgrenzung und Verfolgung anhand vieler sorgfältig erschlossener Quellen. 1938 wurde der Musiker, der sich u. a. mit illegalen Unterrichtsstunden über Wasser zu halten suchte, im Rahmen der „Polen-Aktion“ zwangsweise über die Grenze gebracht und schließlich ins KZ Sachsenhausen deportiert. 1942 verlieren sich seine Spuren auf dem Weg in den Osten …
Die „Jüdische Miniatur“ sei all jenen nachdrücklich empfohlen, die sich in vielfältiger Weise für Kunst und Geschichte interessieren, darunter das Chorschaffen des 20. Jahrhunderts. Namentlich werden in der Studie die Leser Impulse finden, die zu einer Lebenswelt beitragen wollen, in der sich Menschen ohne Feindbilder begegnen, Dialoge suchen und dabei die Kraft gemeinsamen Singens als zwischenmenschliche Brücke (wieder-)entdecken.

Thomas Schinköth
Leipzig, 20.12.2021

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