Orlando Figes: Die Europäer. Drei kosmopolitische Leben und die Entstehung europäischer Kultur [Kadja Grönke]

Orlando Figes: Die Europäer. Drei kosmopolitische Leben und die Entstehung europäischer Kultur / Aus dem Engl. von Bernd Rullkötter – Berlin: Hanser, 2020. – 640 S.: s/w- u. Farbabb.
ISBN 978-3-446-26789-3 : € 34,00 (geb.; auch als eBook)
Originaltitel: The Europeans. Three Lives and the Making of a Cosmopolitain Culture, London 2019

Orlando Figes (*1959), Historiker mit Russland-Schwerpunkt am Birkbeck College in London, hat ein Händchen für die Vermittlung komplexer Sachverhalte in locker lesbarer Form. Umstritten ist seine Verwendung von Quellen nebst wissenschaftlicher Lauterkeit, doch ein Gespür für öffentlichkeitswirksame Forschungsthemen kann man ihm wahrlich nicht absprechen. Seine Publikationen erleben hohe Verkaufszahlen und zahlreiche Übersetzungen. Auch in Deutschland viel gelesen werden seine Bücher zur russischen Revolution (1996, deutsch 1998), zum Lebensalltag unter Stalin (2007, deutsch 2008), zum Krimkrieg (2010, deutsch 2011), zum GuLag (2012 englisch und deutsch) und Hundert Jahre Revolution. Russland und das 20. Jahrhundert (2014, deutsch 2015).
Mit seinem neuen Werk hat er sich thematisch auf ein anderes Terrain begeben, das eher an Nataschas Tanz, seine Kulturgeschichte Russlands (2002, deutsch ebenfalls 2002), anknüpft, und thematisch hat er damit einen Volltreffer gelandet: Mit der Ménage à trois der spanisch-französischen Musikerin Pauline Viardot-Garcia (1821–1910), ihres französischen Ehemannes, Louis Viardot (1800–1883), und des russischen Dichters Iwan Turgenjew (1818–1883) schreibt er sich ins Zentrum europäischer Kultur.
Pauline Viardot-Garcia, aus traditionsreicher Musiker-Familie stammend und Schwester der Primadonna assoluta Maria Malibran, war eine international gefeierte Mezzosopranistin, deren ausdrucksstarker Gesang und Bühnenpräsenz die Musikgeschichte verändert haben. Auch als Gesangslehrerin, Komponistin, Pianistin und Kulturvermittlerin ist sie eine Schlüsselfigur für das Verständnis musikalischer und kultureller Netzwerke im 19. Jahrhundert. 1843 reiste die Künstlerin mit ihrem Mann, dem 21 Jahre älteren Schriftsteller und Kunsthistoriker Louis Viardot, nach Russland, begegnete dort Turgenjew – und fortan war der Dichter ihr und ihrem Ehemann ein treuer Begleiter. Ihm vertraute sie in Russland und Deutschland die Publikation ihrer Lieder an, die sie im Stil Russischer Romanzen auf Texte u. a. von Alexander Puschkin vertonte – und das, obwohl sie neben Französisch, Spanisch und Italienisch selbst Deutsch und Russisch sprach war und auch ihr Mann ein glänzender Kulturvermittler war. Als das Ehepaar Viardot nach dem Rückzug der Künstlerin von der Bühne in Baden-Baden Wohnsitz nahm, wohnte Turgenjew in unmittelbarer Nachbarschaft. Ihm ist es zu verdanken, dass der Mythos Baden-Badens als russischer Exklave literaturwürdig wurde – und seinem weitreichenden Einsatz für die Vermittlung russischer Kultur im Westen ist ein nicht geringer Teil des Buches von Orlando Figes gewidmet.
Aspekte der Vermittlung und Verständlichmachung von Kunst, Kultur und Denkungsarten über Länder- und Sprachgrenzen hinweg spielen in dieser Drei-Personen-Biographie eine zentrale Rolle. Daher erzählt Orlando Figes die drei ineinander verwobenen Lebensgeschichten folgerichtig unter Aspekten des Reisens, des Kultur-, Literatur- und Musik-Im-und-Exports und der Aneignung fremdsprachiger Musik und Literatur. Dies alles funktioniert über konkrete Personen und deren (oft gezielt gesteuerte) Öffentlichkeitswirkung, sodass viel Prominenz des 19. Jahrhunderts durch die Seiten flaniert. Die enge Verflechtung aller Perspektiven führt ihn – auch in Anbetracht der regen Reisetätigkeit seiner drei Protagonisten – folgerichtig zum Schlagwort des ‚Europäischen‘: „Wie diese europäische Kultur geschaffen wurde, ist das Thema dieses Buches. Es soll erklären, wie es geschah, dass um 1900 dieselben Bücher überall auf dem Kontinent gelesen, dieselben Gemälde reproduziert, dieselbe Musik daheim gespielt oder in Konzertsälen angehört und dieselben Opern in allen bedeutenden Theatern Europas aufgeführt wurden. Kurz, wie der europäische Kanon, der die Grundlage der heutigen Hochkultur nicht nur auf diesem Kontinent bildet, sondern allerorten auf dem Globus, wo sich Europäer niederließen, im Eisenbahnzeitalter entstand“ (S. 20).
Es geht also um den Konnex zwischen aufstrebendem Bürgertum, Kunst, Kunst-Vermarktung und Kunst-Verbreitung, und die drei Protagonisten sind der Inbegriff kosmopolitischer Intellektueller, die bei ihren zahllosen Eisenbahnfahrten immer auch Kulturaustausch und Kulturvermittlung – oder nach Figes: Kulturvermarktung – im ideellen Gepäck hatten. Damit sind diese Drei zwar nicht allein (man denke nur an den Vielreisenden Peter Tschaikowsky, der selbstverständlich auch vorkommt, da Turgenjew seine Musik bewunderte und etliche Partituren in die Bibliothek des Pariser Konservatoriums gab – ein Andockpunkt übrigens für Claude Debussy, der 1880 Hauspianist bei Tschaikowskys Mäzenin Nadezhda von Meck wurde). Aber Turgenjew und das Ehepaar Garcia bieten eben auch den literarischen Vorteil einer bewegte, berührenden, streckenweise rätselhaften, auf jeden Fall stets bewegenden und außergewöhnlichen Dreier(liebes)biographie.
Das Buch beginnt mit einer geradezu romanhaften Schilderung der Eröffnung der Eisenbahnlinie von Paris nach Brüssel 1846. Figes lässt uns teilhaben an dem großen, bunten Panorama von Abfahrt bis Ankunft, schreibt lebendig, bildhaft, die Fantasie anregend – aber er lässt sich nicht in die Karten schauen, was von den vielen kleinen Szenen erfunden und was aus zeitgenössischen Quellen kompiliert ist, da er wenig zitiert und im Anhang nur pauschale Quellennachweise anführt. Ein vollständiges Literaturverzeichnis gibt es nicht. Lediglich die Primärquellen werden aufgeführt; alles Weitere muss man sich aus den Fußnoten selbst heraussuchen.
Damit ist der Anfang des Buches symptomatisch für alles, was folgt: Figes geht es weniger um die Nachprüfbarkeit des Details, sondern um eine Einfühlung ins große Ganze, und er überwältigt sein Lesepublikum auf positive Art mit einer Fülle von Aspekten, die er – selbst da, wo es kompliziert werden könnte – nachvollziehbar vor dem inneren Auge ausbreitet. Vielleicht war es im Detail nicht wirklich so. Aber es hätte so sein können, wie der Romancier Figes als alter ego des Historikers Figes es sich ausmalt. Und nebenbei lernt man eine Menge über jene roten Fäden zwischen den Dingen – jene Details, die eher dem Alltag verhaftet sind und in der Wissenschaft lange Zeit negiert wurden: „Den Kern des Buches bildet die neue Art von Beziehungen zwischen den Künsten und dem Kapitalismus […]. Es enthält genauso viel über […] Produktionstechniken, Betriebsführung, Marketing, Werbung […] wie über die Kunstwerke selbst. […] Letzten Endes war es der Markt, der den europäischen Kanon bestimmte“ (S. 21).
Das geschmeidige Lesevergnügen wird zuweilen leicht getrübt durch Figes immanente Urteile. Er ist kein Musikwissenschaftler, teilt beispielsweise die Vorurteile gegenüber der italienischen Oper – obwohl sie ja eigentlich seiner Idee von Kunst und Kommerz auf ideale Weise entsprechen müsste. Und aufgrund seiner besonderen Schreibweise schleicht sich die Perspektive des Autors so behutsam in das Lesen ein, dass man sehr aufpassen muss, was belegbare Fakten, was Darstellung, Beschreibung oder Bewertung ist. Zwar will Figes eine gleichberechtigte Dreier-Biographie schreiben, aber der bisweilen recht gönnerhafte Tonfall, in dem er die Leistungen Pauline Viardot Garcias als männergefördert und durch Männer ermöglicht darstellt, zeigt Figes im Mann-Genie-Denken des 19. Jh. befangen, gemäß dem wahre Kulturleistungen selbstverständlich von Männern produziert werden, während Frauen in ihrem Tun und Handeln männlicher Unterstützung und Anregung bedurften. Dass die Künstlerin Pauline Viardot Garcia jedoch ganz und gar nicht auf die Gnade des starken Geschlechts angewiesen war, sondern – wohl auch durch ihre Sozialisation im romanischen Kulturraum und ihr Aufwachsen in einer Künstlerfamilie – selbstbewusst und direkt ihren Erfolg in die eigenen Hände nahm und dadurch auch andere Künstler (auch viele Männer!) förderte, kommt auf diese Weise zu kurz.
Vielleicht ist eine solche weibliche Selbstermächtigung für den angelsächsischen Blick einfach nicht naheliegend, so wie auch Clara Schumann immer wieder staunte, dass ihre französische Freundin so ganz anders, so viel gelassener mit ihrer Kunst und vor allem ihrem Komponieren umging als sie selbst. Glücklicherweise lassen sich Fakten zu Viardots Haustheater in Baden-Baden, der Orgel, auf der sie gern musizierte, oder der Freundschaft zu der ganz anders gestrickten Clara Schumann auch ohne Figes’ Hilfe in den ausführlichen lexikalischen Beiträgen auf mugi und im profunden Werkverzeichnis leicht auffinden.
Kurz: Das Buch bietet ein breites Panorama, ist eindrucksvoll erzählt, die mannigfachen Inhalte sind aufschlussreich verflochten und an drei hochinteressanten Hauptfiguren festgemacht. Ob Figes diesen Dreien immer gerecht wird? Zumindest die beiden Viardots kommen als plastische, lebende Menschen und Charaktere ein wenig kurz; gegenüber Pauline schwingt ein gewisses Maß an gönnerhafter Distanziert mit. Offenkundig kann Figes als Slawist und Kulturwissenschaftler nicht voll ermessen, welche Lebensleistung sie als Musikerin und musikkulturell Agierende in einem für Frauen schwierigen und komplexen Umfeld erbringt. Doch die Brillanz, die Weite, mit der Figes ausgreift, um Kunst, Literatur und Marketing vor uns auszubreiten und zu verknüpfen, ist die Lektüre auf jeden Fall wert. Für Pauline Viardot Garcia lese man jedoch zumindest noch eine weitere neue Biographie – vielleicht Fülle des Lebens von Beatrix Borchard (Böhlau 2016).

Kadja Grönke
Oldenburg, 04.07.2021

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