Detlef Giese [u.a.]: Im Klang der Zeit. 450 Jahre Staatskapelle Berlin 1570‑2020 [Peter Sühring]

Detlef Giese, Ekkehard Krüger u. Tobias Schwinger: Im Klang der Zeit. 450 Jahre Staatskapelle Berlin 1570‑2020 – München: Hanser, 2020. – 288 S.: Abb.
ISBN 978-3-446-26741-1 : € 38,00 (geb.)

Die Berliner Staatskapelle ist fast 175 Jahre älter als die Königliche Oper zu Berlin Unter den Linden, die sie als Königlich-Preußische Hofkapelle erst seit 1742 nun auch als Orchester eines stehenden Opernhauses zu bespielen hatte. Aber was spielte sie vorher und wie wuchs sie allmählich in das öffentliche und bürgerliche Musikleben hinein? Hier tun sich Fragen auf nach Kontinuitäten und Brüchen bei einem Orchester, das jeweils „im Klang der Zeit“ zu spielen hatte, im Opernhaus und außerhalb, das enormen Wandlungen unterworfen war und ein erstaunliches und seltenes Alter erreicht hat. Dieser Band will nicht nur eine Festschrift sein, sondern wirklich Fragen beantworten und ein Geschichtsbuch sein, das aus den Quellen schöpft, und so ist es ein positives Gegenstück zu dem stolzen und in Eigenlob versinkenden Jubiläumsband zu 175 Jahren Berliner Staatsoper vor drei Jahren im gleichen Verlag (siehe hierzu die Rez. http://info-netz-musik.bplaced.net/?p=16168), und die drei historisch in ihren Zeiträumen geschulten Autoren hatten spürbar den Vorsatz, im Historischen, in der Aufbereitung und Darstellung schwieriger und finsterer Zeiten etwas präziser zu sein und empfindliche Lücken in der Geschichtsschreibung der Berliner Staatskapelle zu schließen. Und so verspricht Detlef Giese in seiner Einleitung, die er als Chefdramaturg des Opernhauses schrieb, nicht zu viel, wenn er ankündigt, dass „nicht wenige Themen und Aspekte hier zum ersten Mal überhaupt zur Sprache gebracht (werden)“ (S. 16).
Auch der Umstand, dass ein eigentliches Gründungsdatum dieser Hofkapelle eines der in der kleinen Stadt an der Spree vorgelagerten Residenz Cölln regierenden brandenburgischen Markgrafen gar nicht feststellbar ist, sondern auch schon Hohenzollersche Markgrafen vor Joachim II. Sänger und Musiker um sich hatten und sich hielten, wird von Ekkehard Krüger, der das erste Kapitel von der brandenburgischen Markgrafen- über die Kurfürsten- bis zum Beginn der preußischen Königszeit verfasst hat, nicht verhehlt. Man begnügt sich in solchen Fällen mit dem Datum der Ersterwähnung einer institutionalisierten Gewohnheit. Die urkundlich erwähnte Kantorei Joachim II. war ein kleines Ensemble aus Sängern und Instrumentalisten, die für geistliche und weltliche Zwecke in Schloss und Kirche zur Verfügung standen. Mit einigem guten Willen kann man diese musikalische Truppe als Keimform der Instrumentalkapellen bis zur heutigen Staatskapelle Berlin ansehen, die sich daraus allmählich ‑ unterbrochen durch den Dreißigjährigen Krieg und unmusikalische Herrscherpersönlichkeiten ‑ entwickelt und verselbständigt hat. Die brandenburgisch-preußische Geschichtsschreibung als Erzählung von der in Brandenburg und Preußen herrschenden schwäbischen Hohenzollern-Dynastie ist noch immer mit Beschönigungen gepflastert. Und so hätte Krüger ruhig schärfer herausarbeiten können, dass die brandenburgische Hofkapelle sich erst eine Königlich-preußische nennen konnte, nachdem durch den expansiven Herrschaftswillen des letzten brandenburgischen Kurfürsten, durch seine Selbstkrönung zum König in einer fernliegenden, halbrussischen Provinz namens Preußen (dem baldigen Ostpreußen mit Königsberg als Hauptstadt) sowie durch die anschließende Verpreußung Brandenburgs die Kolonie das Zentrum erobert hatte und bald ganz Preußen, einschließlich der Mark Brandenburg, die zuvor nie preußisches Kernland war, nun von Berlin und Potsdam aus regiert wurde. In dem Maße wie der erste König in Preußen zum ersten König von Preußen (einschließlich Brandenburgs) wurde, veränderten sich auch die Stellung und Bedeutung der Hofkapelle. Schon unter besagtem Friedrich I. wurde sie zum Mittel von Repräsentation königlicher Macht und vorgetäuschter Kunstbeflissenheit, während genuin musikalische Interessen wohl nur von der Königin Charlotte in ihrer Lietzenburg verfolgt wurden, und damit außer Frage stehen dürfte, auf welcher Seite sich die Musiker geachteter und beglückter fühlen durften.
Auf den Lietzenburger (später Charlottenburger) Musenhof folgte erst eine Generation später der Ruppiner und Rheinsberger Musenhof des Kronprinzen Friedrich, unterbrochen von der amusischen Regentschaft des sog. Soldatenkönigs, der die Hofkapelle verabschiedete und sich lieber mit seinen uniformierten Langen Kerls präsentierte, umgeben von einigen Militärmusikern, die ihnen den Marsch bliesen. Bald und parallel dazu gab es eine illustre Schar von Musikern, die der Kronprinz Friedrich ‑ als er noch ein Antimacchiavellist war ‑ in Rheinsberg als Keim einer neuen späteren Hofkapelle um sich scharte und die Tobias Schwinger in dem der Regentschaft Friedrichs des Zweiten von Preußen gewidmeten Kapitel beschreibt. Dieses Kapitel ist nicht nur informativ, sondern auch in seiner Charakterisierung der ambivalenten kulturpolitischen Ambitionen des zum Macchiavellisten gewandelten Königs Friedrich II. abwägend und glänzend erzählt als Vereinigung von Gegensätzen: Aufstockung der Hofkapelle (zum Teil mit arbeitslos gewordenen, von Heinichen erzogenen Musikern aus Dresden), Heranziehung prägnanter Köpfe wie der Brüder Graun, Quantz und Agricola für die italienische Hofoper und das bis in die Nebenresidenzen der königlichen Familie weit gefächerte, bis in Adels- und Bürgerhäuser sich entfaltende Konzertleben, ausgestattet mit hervorragenden Cembalisten und Komponisten wie Carl Philipp Emanuel Bach und Schaffrath ‑ aber eben auch die Selbstbeschneidung und Lähmung dieser Errungenschaften durch Expansionskriege und Großmachtpolitik wie die folgende Erstarrung der musikalischen Leidenschaften im kriegerisch erweiterten und gefestigten Preußen durch die Fixierung eines für alle verbindlichen königlichen Geschmacks durch musikbezogene Kabinettsordre, Verweis der neumodischen Strömungen außerhalb Preußens in die gerade noch geduldete Pflege der opera buffa.
Schön und erregend zu lesen auch Schwingers Erzählung der nun folgenden wechselhaften Perioden bis 1842 (den Entlassungen von Operndirektor Gaspare Spontini und Kapellmeister Carl Möser) unter den preußischen Königen Friedrich Wilhelm II bis IV mit der Öffnung des Repertoires für die modernen Strömungen, denen Johann Friedrich Reichardt als Kapellmeister schon mit seiner Trauerkantate auf den 1786 verstorbenen Fridericus Rex seine Reverenz erwies. Dann wiederholte sich das Beispiel, dass ein Kronprinz, diesmal Friedrich Wilhelm II., seine eigene Kapelle mit der offiziellen Hofkapelle vereinigte und Sachen spielen ließ, die man bisher nur außerhalb Preußens hören durfte. Etliche administrative Umbildungen, mal zum Vorteil, mal (unter Friedrich Wilhelm. III.) auch zum Nachteil der Musiker und des Konzertlebens, unterlagen weiterhin dem Kalkül königlicher Repräsentationsabsichten, konnten aber letztlich die Durchsetzung des bürgerlichen Geschmacks und einer deutschen Nationaloper nicht verhindern, wie die sensationelle Uraufführung des Weberschen Freischütz im Berliner Königlichen Nationaltheater 1821 bezeugte. Überall spielten die Musiker der Hofkapelle, mal protegiert, mal gestutzt, eine hervorragende Rolle, ergriffen auch für kammermusikalische Abonnementskonzert-Reihen eigene Initiativen und blühten besonders unter Mösers Leitung mächtig auf. Möser und später selbst noch Spontini taten freiwillig bis widerstrebend ihr Bestes, um den damals äußersten Maßstab moderner Musik, jene Beethovens, in Berlin durchzusetzen, zwar anfangs nur häppchenweise, wie von Berlins allmächtigem Musikkritiker Adolf Bernhard Marx heftig kritisiert, aber schließlich gelang sogar Spontini eine als mustergültig empfundene Berliner Erstaufführung von Beethovens 7. Sinfonie.
Typisch für den nur gebrochenen, zögernden, halbherzigen Aufbruch im Berliner Musikleben war das Schicksal eines der überragenden musikalisch Frühreifen und Könner der Stadt, jenes von Felix Mendelssohn. Dessen frühe öffentliche Aufführung einer seiner Streichersinfonien 1823, außerhalb der Sonntagskonzerte auf der Neuen Promenade in der Spandauer Vorstadt (erst später in der Remise der Leipziger Straße), an denen übrigens auch stets Mitglieder der Hofkapelle beteiligt waren, dessen Wiederaufführung einer modernisierten Bearbeitung der Bachschen Matthäuspassion 1829, dessen drei Debütkonzerte bei der Hofkapelle mit avantgardistischen eigenen Werken im Januar 1833 vor einem weitgehend verständnislosen Publikum trugen ihm neben unvermeidlicher pauschaler Bewunderung nur die gezielte Ablehnung seiner Bewerbung für die Direktion der Sing-Akademie ein. Später entlarvte sich Friedrich Wilhelm IV. Anfang der 1840erJahre noch einmal mit einer nur vorgetäuschten oder inkonsequent durchgeführten Absicht, Mendelssohn mit der Modernisierung des Berliner Musiklebens zu betrauen, wozu dieser leichtsinnigerweise seine erfolgreiche Tätigkeit in Leipzig zu unterbrechen bereit war und sich dann gefoppt vorkommen musste und ‑ lediglich mit Titeln dekoriert, aber nicht mit Aufgaben betraut ‑ Berlin viel zu spät wieder Richtung Leipzig verließ.
Die folgende von Giese dargestellte Periode der Hofkapelle von der Einführung der Sinfonie-Soireen 1842 bis zum Zusammenbruch der Hohenzollern-Dynastie in der Novemberrevolution am Ende des Ersten Weltkriegs 1918 krankt etwas daran, dass Giese die Chance vertut, die lange Zeitspanne von annähernd vierzig Jahren hauptsächlich unter der Leitung des Generalmusikdirektors Wilhelm Taubert anders zu beschreiben und aufzuhellen als bisher üblich als eine Phase der Stagnation und des Konservatismus, zumal er für die Zeit nach Taubert ab 1883 nur anzubieten hat, dass unter Joseph Sucher und Karl Muck nun die Aufführungen von Wagners Musikdramen von der Ausnahme zur Regel wurden, was von ihm als Schritt hin zur Öffnung für Modernes angesehen wird. Das Repertoire der klassisch-romantischen Kunstperiode als Kernstück der Aufführungen und Konzerte blieb aber bestehen wie es war: Beethoven als Kern, dann Haydn, Mozart und die frühen Romantiker. Es wäre aber an der Zeit, statt pauschal von „eigenen Werken“ Tauberts, die er auch aufgeführt hätte, zu reden, diese sich einmal genauer anzuschauen (Opern, Schauspielmusiken, Sinfonien, Kammermusik, Lieder), sonst bleibt man selber auch nur im Kanon hängen und kann nicht begründen, ob und warum es aus heutiger Sicht gerechtfertigt sein kann, Mendelssohn, Schumann und Brahms, aber keinen Taubert mehr zu spielen. Auch Mendelssohns wenige Berliner Konzerte mit der Hofkapelle 1842/43 müsste man sich wohl genauer anschauen, denn es ist schwer vorstellbar, dass der vorher in Leipzig als Veranstalter sogenannter historischer Konzerte aufgefallene Dirigent nicht auch in Berlin hinter Haydn zurückgegangen wäre. Einzelne Kapellmeister und Gastdirigenten, unter ihnen Liszt, Berlioz und übrigens auch der nicht erwähnte Wagner selbst, hatten durchaus die Möglichkeit, die Berliner, wenn sie denn wollten, mit neueren Tendenzen in der Musik vertraut zu machen. Es gab übrigens auch schon vor der Gründung des Philharmonischen Orchesters in Berlin andere weitere Klangkörper, wie den Sternschen Gesangverein mit eigenem Orchester, die Mut zur Einstudierung und Präsentation zeitgenössischer Werke hatten. Eine wirkliche Wende trat für die Hofkapelle allerdings erst mit Felix Weingartner und Richard Strauss an ihrem Dirigentenpult ein. Der von Weingartner bewirkte Einschnitt war aber nicht so sehr eine Wende zur Moderne, sondern vor allem eine Abwendung vom bornierten deutschen Kanon, dem Taubert sich noch verpflichtet fühlte, und stattdessen ein Bekanntmachen mit der zeitgenössischen Musik der Slawen, Romanen und Skandinavier. Allerdings konnte, kann und will bis heute keiner der die Staatskapelle leitenden Dirigenten, sofern sie nicht ihr Schwergewicht auf die Oper legten (wie Leo Blech), die von Taubert geschaffene Beethoven-Tradition als Kernstück des Repertoires fallen lassen.
Im weiteren Verlauf seiner Erzählung gelingen Giese wohl auch wegen der größeren Nähe zu greifbaren schriftlichen und klanglichen Originaldokumenten recht anschauliche Schilderungen der kulturpolitischen Verwerfungen und Charaktermasken in der Weimarer Republik, im „Dritten Reich“, in der DDR und manches Dirigentenporträt zwischen Anpassung an und Widerstand gegen den Zeitgeist. Gieses Vorliebe für Dirigenten mit Visionen und Charisma lassen Erich Kleiber, Wilhelm Furtwängler, Otto Klemperer, Herbert von Karajan und jüngst Daniel Barenboim etwas überlebensgroß erscheinen (nur bei ihnen gibt es auch genauere Schilderungen des Repertoires und des Charakters ihrer Aufführungen) und stellt andere in den Schatten, ganz zu schweigen davon, dass von dem lebendigen menschlich-künstlerischen Kollektivkörper, den Musikerinnen und Musikern des Orchesters selbst, weder en masse (außer statistisch und stimmungsmäßig) noch vereinzelt, kaum die Rede ist oder sein kann. Aber auch hier gäbe es über exemplarische Schicksale zu berichten.
Eine Chronik, ein Literaturverzeichnis und ein Personenregister ergänzen den Band aufs Nützlichste. Seltsame Unterschriften gibt es unter den vielen, gut ausgesuchten Bildern mitunter auch. Auf S. 114 ist eine Geldmünze abgebildet, von der es heißt, dass sie „anlässlich der Uraufführung von Mendelssohns Schauspielmusik zu Ludwig Tiecks ‚Antigone‘, 1842“ geprägt worden sei. Im Fließtext der historischen Darstellung der Jahre 1841‑43 und des Verhältnisses Mendelssohns zu den Aktivitäten, Passivitäten und auf Sand gebauten Plänen König Friedrich Wilhelm IV. während seines trügerischen Aufenthalts in Berlin kommt dieses Ereignis, an dem die Hofkapelle und Mendelssohn durchaus beteiligt waren, aber gar nicht vor, weswegen diese Musik auch im Register unter Mendelssohns Werken nicht aufgeführt wird. Es handelt sich natürlich um Mendelssohns Schauspielmusik zur gleichnamigen Tragödie des Sophokles (der dementsprechend auch im Register ungenannt bleibt), die Tieck lediglich inszeniert hatte.

Peter Sühring
Berlin, 20.06.2021

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