William Melton: Humperdinck. A Life of the Composer of Hänsel und Gretel - [o.O.:] Toccata Press, 2020. – 438 S.: zahlr. Ill.
ISBN 978-0-907689-92-8 : ca. € 49,00 (geb.)
Rechtzeitig zum 100. Todestag des Komponisten erschien Ende 2020 eine neue, umfangreiche Biographie des Komponisten Engelbert Humperdinck (1854-1921) in englischer Sprache, die auch ausführlich dessen Werk würdigt.
Autor William Melton war nach seiner Ausbildung an der University of California Los Angeles lange Jahre Hornist im Sinfonieorchester des Theaters Aachen und betätigt sich daneben als Herausgeber von Horn-Literatur und Autor von Literatur über das Horn bzw. die (Wagner- )Tuba.
Schon Mitte der 1990-er Jahre plante Melton, eine Monographie zu Engelbert Humperdinck zu verfassen, sammelte Material in Archiven und Bibliotheken. So ist er mit der Thematik schon lange vertraut.
Anlass für diese Arbeit war, dass für englischsprachige Leser trotz der Bedeutung des Komponisten bisher eine ausführliche Biographie fehlte und bis auf Hänsel und Gretel seine Werke weitgehend unbekannt waren. Meltons Ziel ist, Humperdincks kompositorisches Schaffen eingehend zu betrachten und in den musikalischen Kontext sowie die Zeitgeschichte einzuordnen.
Diese Einordnung ist auch für deutsche Leser gewinnbringend. Denn auch in der deutschsprachigen Literatur über Humperdinck fehlte bis vor kurzem eine aktuelle Gesamtdarstellung von Leben und Werk: es gab die bereits 1965 erschienene Biographie des Sohnes Wolfram Humperdinck, das von Hans Josef Irmen verfasste Werkverzeichnis, das im Anhang auch das Verzeichnis des in der Universitätsbibliothek Frankfurt bewahrten Nachlasses wiedergibt, zahlreiche Briefausgaben sowie Einzeluntersuchungen zu Werken und Werkgruppen.
Diese Lücke wird nun durch die beiden Publikationen von Melton (2020) und von Matthias Corvin (2021) gefüllt.
Was unterscheidet die Werke von Melton und Corvin? Corvins Märchenerzähler und Visionär : Der Komponist Engelbert Humperdinck, sein Leben, seine Werke (Mainz 2021) ist als Kompendium zu verstehen, das einen schnellen, konzisen Überblick sowohl für Biographisches als auch für das Schaffen und die daraus entstandenen Ton- und Schrift-dokumente gibt. (Rez. demnächst hier auf info-netz-musik)
Melton dagegen hat in seiner 438 Seiten umfassenden Publikation das Anliegen, den Komponisten und sein Umfeld detailliert darzustellen. Im Vergleich zu der kompendienhaften, straffen, sehr inhaltsdichten Monographie von Matthias Corvin ist dieser Band tiefgehender. Er schildert viele Details und bringt viele Zitate im laufenden Text. Für das nicht-deutsche Publikum erklärt Melton nationale Eigenheiten (kulinarische Spezialitäten, deutsche Gewohnheiten im sozialen Leben etc.) und das kulturelle Umfeld des Komponisten. Dies wirkt sich für deutsche Leser*innen in den späteren Kapiteln nicht ermüdend aus, aber das einleitende Kapitel mit Stammbaum der Familie und Details zu den Vorfahren und der Geschichte der Stadt Siegburg wirkt etwas weitschweifig.
Der Hauptteil ist in drei große Abschnitte gegliedert:
1. The Early Years 1854-93 (135 S.)
2. Renown: 1893-1907 (133 S.)
3. The Last Years (80 S.)
Ein sechsseitiger Epilogue, Not a Genius but a Master, mit Beurteilung Humperdincks durch Musikwissenschaftler (Nachrufe, wissenschaftliche Arbeiten) rundet den Lesetext ab.
Im Anhang sind zu finden eine Werkliste, gegliedert nach Musikgattungen (11 S.), eine Bibliographie mit fünf unterschiedlichen Kategorien (22 S.) sowie zwei Indices (Werkliste und General Index).
Im Index of Humperdinck’s works sind auch „lost works“ und „arrangements“ integriert; der 20 Seiten umfassende General Index umfasst auch Körperschaften, Zeitschriftentitel, Werke anderer Komponisten (unter deren Namen).
Meltons Band ist weniger zum schnellen Nachschlagen oder für Kurzinformation geeignet, sondern eher für intensiveres Kennenlernen des Komponisten und seines Umfelds. Er ist angenehm zu lesen, außerdem ansprechend und reich bebildert mit Porträts, Karikaturen, Notenbeispielen sowie Abbildungen von Briefen und Postkarten.
Zitate stammen beispielsweise aus Briefsammlungen, wie eines aus einem Brief von Clara Schumann an Johannes Brahms zur Hänsel und Gretel-Rezeption in Frankfurt am Main: „His opera Hänsel und Gretel was quite beautifully done and unbelievably well received. Well, you already knew and cherished the piece. I did not, because the piano score alone had not impressed me. I certainly had not expected such a satisfying evening.“ (nach Berthold Litzmann, Leipzig 1927, S. 572)
Oft gibt Melton auch Zeitungskommentare in Auszügen wieder, z.B. in dem Kapitel, in dem es um die Schauspielmusiken für Max Reinhardts Inszenierungen in Berlin geht. Durch Zitate aus Berliner Tageblatt, Der Tag und anderen Zeitungen entsteht ein lebendiges Bild der Rezeption. Und schließlich greift er auch auf unveröffentlichte Quellen zurück: „Henri Gagnebin, later director of the Geneva Conservatoire, approached Busoni about composition lessons in 1906. ‚He received me kindly, but told me that he would not teach me. ‚The best teacher,‘ he said, ‚is Engelbert Humperdinck‘“ (unveröffentlichte Memoiren, Nachlass Wolfram Humperdinck, Stadtarchiv Siegburg).
Durch seine langjährige Orchesterpraxis hat Melton eine umfassende Repertoirekenntnis, die bei der kulturellen Einordnung Humperdincks als Komponist, als Kompositionsdozent und bei der Beurteilung der Rezeption seiner Werke positiv zum Ausdruck kommt.
So ist dieser Band weniger für Humperdinck-Novizen als für fortgeschrittene Humperdinck-Interessenten zu empfehlen. Ein großes Lob für die umfangreiche, klug ausgewählte und lebendig dargebotene Materie.
Die beiden Publikationen von Corvin und Melton ergänzen sich gut und würdigen Humperdinck in seinem Jubiläumsjahr in angemessener Weise. William Melton gibt in seiner Monographie einen umfassenden Überblick über Leben und Werk des Komponisten Engelbert Humperdinck, wobei seine langjährige Beschäftigung mit dem Thema wie auch seine praktischen Erfahrungen als Orchestermusiker sich positiv auswirken: umfassendes Hintergrundwissen scheint immer wieder hervor. Eine passende Lektüre für jemanden, der sich intensiver mit Humperdinck auseinandersetzen möchte.
Ann Kersting-Meuleman
Bad Vilbel, 26.07.2021