Sophy Roberts: Sibiriens vergessene Klaviere. Auf der Suche nach der Geschichte, die sie erzählen / Aus dem Engl. von Brigitte Hilzensauer. – Wien: Zsolnay, 2020. – 398 S.: s/w-Abb., Karten
ISBN 978-3-552-07205-3 : € 26,00 (geb.; auch als eBook)
Originaltitel: The Lost Pianos of Siberia, London 2020
In Zeiten der Interkontinentalflüge vergisst man manchmal, welche immense Bedeutung die Eisenbahn für die Kultur des 19. und 20. Jahrhunderts hat. So wie der Historiker Orlando Figes sein Buch über die Musikerin Pauline Viardot-Garcia (Die Europäer; Berlin 2020) mit der Schilderung einer Eisenbahnfahrt 1846 von Paris nach Brüssel beginnt, so beginnt auch die britische Autorin und Reisejournalistin Sophy Roberts ihre Saga über Sibiriens vergessene Klaviere mit der Beschreibung einer Zugfahrt – in ihrem Fall um 1900 auf der Strecke von Moskau nach Wladiwostok. Beide Autoren können auf ein profundes wissenschaftliches Studium, reichhaltige Quellen und ein breites, in sich mannigfach vernetztes Wissen zurückgreifen. Beide haben ein historisch signifikantes Thema gewählt, das sie aus einer klaren, nur auf den ersten Blick engumgrenzten Perspektive angehen. Und Beide schreiben so, dass man beim Lesen sofort gepackt wird. Doch wie grundlegend anders geht Sophy Roberts vor! Bei ihr ist alles belegt. Zwar bleibt der Text quasi frei von Kommentaren, doch ein (lesenswerter!) dreiteiliger Anhang enthält nicht nur genaue Quellenangaben, sondern auch Fußnoten und Bildnachweise. Zudem macht die Autorin in ihrem Erstlingsbuch von Anfang an klar, dass sie aus einer ganz persönlichen Perspektive schreibt und einen stark emotionalen Bezug zum Thema hat, den sie in keinem Fall verschleiern möchte, auch wenn sie Fakten darstellt: „Sibirien ist schwer festzumachen, seine losen Grenzen erlauben es allen Besuchern, ihm jegliche Gestalt zu geben, die ihnen beliebt. […] Dieses Buch […] ist ein persönliches, ein literarisches Abenteuer“ (S. 14f.). Und so verschmilzt Roberts einen autobiographischen Entwicklungsroman, einen Abenteuerroman, eine Reportage ihrer drei Sibirien-Reisen 2016, 2018 und 2019 und das, was man im Journalismus eine ‚gute Story‘ nennt, mit einer kompetenten, informativen und gut lesbaren Geschichte Sibiriens. Bei aller inneren Beteiligung und allen journalistischen Glücksfällen verliert sie zugleich nie ihren roten Faden aus dem Blick, an dem entlang sie diese Geschichte eines Landes entfaltet: Leitgedanke ist die Liebe zum Klavier, die Pianomanie, die früh aus Europa nach Russland überschwappte.
Das mag zunächst überraschen: Sibirien und das Klavier? Doch man lese selbst! Zu Recht nennt die FAZ das Ergebnis eine „Zivilisationsarchäologie eigener Art. Roberts‘ Buch verwebt historische Exkurse mit Begehungen gottvergessener Orte und Figurenporträts von eindrucksvoller Kraft“ (Kerstin Holm, 08.03.2021). Und so vermischen sich Lesevergnügen und Sachinformationen zu Geschichte und Gegenwart auf eine ganz eigene Art und Weise.
Klavierinstrumente – zuerst 1774 von Katharina der Großen aus England eingeführt – sind ein treffendes Symbol für den Kulturtransfer von Europa nach Russland und alsdann für die russische Kolonialisierung Sibiriens. Die Autorin sucht nach der Geschichte derjenigen Instrumente, die mit Exilanten, Sträflingen, Siedlern oder auch der todgeweihten letzten Zarenfamilie ihren Weg in den Osten nahmen. Sie findet Menschen, die mit Hilfe der Musik dort leben und überleben. Von der Fürstin Maria Wolkonskaja (1805–1863), die ihrem Mann mit Klavier in die sibirische Verbannung folgte, bis zur im sowjetischen Gulag inhaftierten Pianistin Véronique Lautard-Schewtschenka (1899–1982) entdeckt sie eindrucksvolle Geschichten und eine Geschichte, die man so kompakt in keinem Schulbuch findet – wobei Historisches bei ihr stets bemerkenswert treffgenau zusammengefasst und aktuell nachrecherchiert ist. All dies verbindet sie mit Erzählungen zu den Klavierbauern, Stimmern, Lehrkräften, Musikerinnen und Musikern, denen sie auf ihrer Reise begegnet. Das Ergebnis ist ein Abriss über die Entwicklung Sibiriens aus der Perspektive seiner Bewohner: Erzählungen von Leid und Hoffnung, Suchen und Finden, zusammengehalten von der Fähigkeit der Autorin, sich auf das Unbekannte einzulassen und sich unvoreingenommen überraschen zu lassen.
Am Ende hat ihre Reise noch einen ganz praktischen Nebeneffekt: Sie findet für die mongolische Pianistin Odgerel Sampilnorov (*1987) ein Instrument, dass den besonderen Beiklang ihrer Heimat zum Tönen bringt: ein Grotrian-Steinweg-Pianino aus den 1930er Jahren, eingelagert in Nowosibirsk, 2018 speziell für die sibirischen Klimaverhältnisse restauriert, steht heute in Ulaanbaatar und erklingt im Sommer an unüblichen Orten im mongolischen Orchon-Tal. Näheres zu dieser Mission und zum Buchprojekt insgesamt bietet das Internet. Sophy Roberts versteht es, Reales ohne Pathos, aber mit Empathie zu schildern. Viel mehr müsste man schreiben über dieses Buch – aber man lese es lieber selbst! Und am Ende wird man weiterlesen wollen, auch über Seite 337 hinaus.
Kadja Grönke
Oldenburg, 04.07.2021