Boris Pasternak – Marina Zwetajewa. Briefwechsel 1922–1936 [Kadja Grönke]

Boris Pasternak – Marina Zwetajewa. Briefwechsel 1922–1936 / Hrsg. und übers. von Marie-Luise Bott. – Göttingen: Wallstein, 2021. – 804 S.
ISBN 978-3-8353-3860-9 : € 39,90 (geb.; auch als eBook)

In den vergangenen Monaten sind einige Publikationen zu Russland und dem Westen erschienen, die anhand von außergewöhnlichen Biographien zugleich den geographischen, politischen und musikalischen Kulturraum aufschließen, in dem sich Musik und Kunst ereignen. Während Sophy Roberts’ lebendige Saga Sibiriens vergessene Klaviere (Wien 2020) oder Orlando Figes’ licht- und schattenreiches Buch zu Pauline Viardot-Garcia, Louis Viardot und Iwan Turgenjew (Die Europäer; Berlin 2020) trotz ihres wissenschaftlichen Anspruchs für ein breites Lesepublikum geschrieben sind und russische und europäische Geschichte so schlüssig ineinander verschränkt und anhand eines jeweils so ungewöhnlichen und doch so anziehenden Plots erzählen, dass man sich unwillkürlich fragt, warum es so lange gedauert hat, bis jemand das Potenzial dieser Themen für sich entdeckt hat, ist der Briefwechsel zwischen der Dichterin Marina Zwetajewa (1892–1941) und dem Autor Boris Pasternak (1890–1960) ein schweres Geschütz, vom Stil wie vom Inhalt her. Doch auch er fesselt und absorbiert die gesamte Aufmerksamkeit, wenn man nur bereit ist, sich auf zwei außergewöhnliche Biographien einzulassen – nicht anders als bei Roberts und Figes auch.
1922 beginnt ein schriftlicher Austausch zwischen zwei allzu verwandte Seelen, die einander bislang nur über ihre Werke begegnet sind: Die Dichterin Marina Zwetajewa schickt ihre Briefe überwiegend aus dem Prager und Pariser Exil, der Dichter Boris Pasternak aus dem geistigen Russland und realen Sowjetstaat. Beide haben eine starke Affinität zur Musik, was man ihrem Schreiben deutlich anmerkt: Marina Zwetajewa ist Tochter einer professionell ausgebildeten, aber nicht öffentlich auftretenden Pianistin und eines Kunsthistorikers; sie arbeitet in ihren Gedichten mit Rhythmus und Pausen, Klängen und Klangassoziationen. Ihre Dichtung, ihre Prosa und auch ihre Briefe wollen laut gelesen werden. Boris Pasternak, ebenfalls Sohn einer Pianistin (und eines Malers), spielt zunächst Klavier und komponiert, bevor er sich der Sprache zuwendet. Beide verbindet eine Jugend in der lebhaften Kunst-, Musik- und Literaturszene der russischen Jahrhundertwende, die Liebe zu Deutschland und deutscher Literatur sowie die ebenso emotionale wie schwierige Haltung zur Sowjetisierung ihrer Heimat. Beide verehren den Dichter Rainer Maria Rilke (1875–1926), der für sie die Inkarnation von gelebter Dichtung und geistigem Europa ist, und führen kurz vor seinem Tod einen intensiven Dreierbriefwechsel mit ihm (der zum Teil in den neuen Band Eingang gefunden hat). Nicht weniger hochemotional, zudem maßlos, kryptisch und fordernd bis zum Äußersten entwickelt sich auch die Zweier-Beziehung zwischen Zwetajewa und Pasternak, die bis zum Freitod der Dichterin andauert.
Persönlich begegnen sie einander erst sehr spät, als der Absolutheitsanspruch der ersten, wie eine Naturgewalt aus der Feder drängenden Briefe schon vom Leben abgeschliffen scheint. Der Briefwechsel tritt also an die Stelle des Gesprächs; er wird Teil ihres literarischen Denkens und weist starke Verflechtungen mit ihrem jeweiligen künstlerischen Oeuvre auf. Denn beide Dichter leben ihre Kunst mit einer Unbedingtheit, die an Selbstvernichtung grenzt, und sehen sich zu „Worten […] verurteilt“ (S. 682). Ihre wechselseitige Korrespondenz wird für sie Werkstatt und Werk, Liebesforderung und Opus, geistiger Dialog und alternative Form eines Lebens, das anders nicht gelebt werden kann als im Geist.
Und dennoch bleibt dieser Briefwechsel weit entfernt von der absoluten Freiheit des Geistes: Im Nachwort thematisiert die Herausgeberin und Übersetzerin Marie-Luise Bott das Thema der sowjetischen Briefzensur, das Pasternak offenbar stärker bewusst ist als Zwetajewa; sie erläutert die fragmentarische Überlieferung insbesondere der Briefe Zwetajewas (von denen oft nur Konzeptschriften erhalten sind) und Pasternaks Notwendigkeit, zum Überleben in der Sowjetunion Kompromisse einzugehen – was Zwetajewa für sich vehement ablehnt.
„Ein Brief – das sind nicht Worte, das ist eine Stimme. (Wir setzen nur Worte dafür ein!)“ (S. 21) schreibt Zwetajewa im November 1922 an Pasternak. Die Slawistin Marie-Luise Bott (*1953), seit Jahren mit Zwetajewas Schreibstil eng vertraut, hat in ihrer Übersetzung und Kommentierung des Briefwechsels zwischen Marina Zwetajewa und Boris Pasternak Maßstabsetzendes geleistet im Nachschöpfen und Nachschreiben dieser eigentlich unübersetzbaren, eigentlich auch nicht publizierbaren Kommunikation zweier durch ihr Dichtertum bedingungslos verbundener Seelen. Sie wagt den musikalisierten, pausendurchsetzten, zäsurierten, fragmentierten und hochemotionalen Tonfall Zwetajewas. Sie moduliert Pasternaks klares, literarisch gefasstes Ebenmaß. Sie findet deutsche Entsprechungen für die von beiden Briefpartnern sprachlich inszenierte Überwältigung, die im niedergeschriebenen Monolog gleichwohl das ferne Gegenüber mit einbezieht. Und sie kommentiert mit knappen, verweiskräftigen Anmerkungen, was eindeutig zu kommentieren ist. Alles Weitere – das Entdecken von Fragen, der Versuch einer Sinngebung, das innerliche Laut-Vorlesen (ohne das Vieles kryptisch bleibt) – ist als Aktivität dem Lesen anheimgestellt. Da insbesondere in Russland Dichtung immer auf ihre Deklamation hin konzipiert ist, sollte man auch diese Briefe als Dichtung (laut) lesen – als musikalisierte Formung zweier zerrissener Existenzen, als zweistimmige Lebens-Passacaglia, in der immer je eine Stimme pausiert: Sprachmusik, in emotionalem Gleichklang und ausdrucksstarken Dissonanzen, die die Briefpartner sich auszuhalten zwingen.

Kadja Grönke
Oldenburg, 04.07.2021

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