Casta Diva. Der schwule Opernführer / Hrsg. von Rainer Falk und Sven Limbeck – Berlin: Querverlag, 2019. – 704 S.: Abb.
ISBN 978-3-89656-280-7 : € 50,00 (geb.)
Kann ein Opernführer schwul sein? Rainer Falk vom Potsdamer Fontane-Archiv und Sven Limbeck von der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel erklären – und hier sind Übertitel wie Erläuterung im Werbebeiblatt besonders wichtig – ihre Intentionen. Auf dem Werbezettel des Querverlags findet sich die schöne Zusammenfassung: „Ein unterhaltsames Nachschlagewerk für schwule Opernfans und alle, die es werden wollen“.
Was ist ein schwuler Opernfan? Ebenso wie es nicht „den“ Heterosexuellen gibt, ist nicht nur das kulturelle Interesse Homosexueller kaum weniger vielschichtig. „Casta Diva“ – die „Signature Aria“ Maria Callas’ – weist auf die Verehrung weiblicher (und männlicher) „Diven“ durch die schwule Community und damit auf das Selbstverständnis der Herausgeber und des Verlages. Dabei gibt es in allen gebildeten kulturellen Schichten Menschen, die Belcanto-Opern ablehnen. Die große Vielfalt an Homosexualitäten spiegelt sich auch an der Liste der teilweise höchst renommierten Autoren (nur drei Autorinnen) und ihrer Schwerpunkte. Genügend Potenzial also für einen Opernführer der ganz anderen Art.
Worum also geht es? Um Werke, mit denen sich Schwule in irgendeiner Art identifizieren? Werke, die eine queere Inszenierungslesart ermöglichen? Werke, in denen mit Rollenklischees gespielt wird, in denen Genderwechsel reell oder durch Cross-Dressing stattfindet, oder um Werke schwuler Komponisten? „In Form und Anspruch gleicht Casta Diva gebräuchlichen Opernführern. Wir stellen in sachlich fundierten Artikeln 157 Werke von 92 Komponisten aus rund 400 Jahren Musiktheatergeschichte vor. Wie in konventionellen Opernführern gibt es Würdigungen von Leben und Schaffen der Komponisten sowie Informationen zu Besetzung, Handlung, Entstehung und Musik der Opern, weiterführende Literatur und empfehlenswerte Einspielungen auf CD und DVD. Casta Diva ist kein Kuriositätenkabinett und kein Führer zum Abseitigen, sondern erschließt das aktuell an Opernhäusern gespielte Repertoire von Händel, Mozart, Rossini, Donizetti, Verdi, Bizet, Tschaikowski, Wagner, Strauss, Puccini, Britten, Henze und vielen anderen. Ein entscheidendes Kriterium für die Aufnahme eines Werks war dann auch, dass die Leserinnen und Leser die Chance haben sollten, es in irgendeiner Form kennenzulernen, sei es, weil es mehr oder weniger regelmäßig auf dem Spielplan steht, sei es, weil es zumindest auf einem Datenträger dokumentiert und zugänglich ist. In wenigen Fällen haben wir die Gattungsgrenzen überschritten: nämlich bei den oratorischen Werken Saul von Georg Friedrich Händel und Le martyre de Saint-Sebastien von Claude Debussy sowie bei der Operette Die Fledermaus von Johann Strauss – weil diese Werke in Opernhäusern gespielt werden und weil sie inhaltlich so relevant sind bzw. mit dem Opernschaffen in so engem Zusammenhang stehen, dass sie uns unverzichtbar erschienen. Letztlich besteht aber jede Auswahl in der Entscheidung für das Weglassen. Manche Leserinnen und Leser werden bestimmte Opern schmerzlich vermissen oder andere schlichtweg überflüssig finden. Auch das ist ein Schicksal, das Casta Diva mit gängigen Opernführern teilt.“ (S. 13).
Es geht in der Publikation nicht um einen Versuch, einen ausgewogenen genderpolitischen Proporz unter Opern mit schwuler, lesbischer, genderfreier oder -überwindender, mithin „queerer“ Thematik zu bieten, auch nicht um eine proportionale Erkundung des weiten Spektrums des Schaffens von LGBTX Komponist*inn*en – „weil das mit dem gespielten Repertoire nicht möglich gewesen wäre“. Aber warum nur mit dem gängigen Repertoire? Wo besteht der Bedarf nach „kanonisierenden“ Opernführern, wenn ein LGBTX-Opernführer gerade diese Perspektive hätte weit hinter sich lassen können? Die Anmerkung „Zu schreiben wäre noch eine dezidiert schule Operngeschichte, die z. B. darstellen und erklären müsste, warum ausgerechnet explizit schwule Opern wie Harvey Milk von Stewart Wallace oder Edward II. von Andrea Lorenzo Scartazzini zu den schwächsten Werken der jüngeren Bühnengeschichte gehören“ (S. 11) mag implizit ein Grund für der Vermeidung dieses Perspektivwechsels gewesen sein (dennoch werden auch wenige solche Werke in Einzelbeiträgen behandelt).
Viele Opernführer enthalten heute keine Komponistenlebensläufe mehr, weil das Internet hinreichend informativ zu sein scheint. Die hohe Qualität der einzelnen Beiträge bewirkt aber eine große Freude an der Lektüre zahlreicher Beiträge, und selbst jene, die sich wohlinformiert dünken, werden viel Neues und Wissenswertes lernen können. Dass queere Lebensmomente in hinreichender Weise auch Erwähnung finden, ist besonders positiv zu vermerken. Die Einträge zu den einzelnen Werken sind klar gegliedert in einen kurzen Faktenteil (Titel mit Ergänzungen, Libretto, Uraufführung, Liste der auftretenden Personen, Ort und Zeit der Handlung, Spieldauer), einem jeweils rund eine Seite langen Handlungsabriss sowie Erläuterungen eher unterschiedlichen Umfangs. In diesen Erläuterungen erlauben die Herausgeber ihren Autor*inn*en (und auch sich selbst) jedwede Subjektivität, die teilweise weniger auf das Werk gerichtet ist, teilweise mehr auf mögliche (oder oktroyierte) dramaturgische Lesarten der Komposition. Gerade diese „freie Meinungsäußerung“, die erfreulich unverkrampft, aber immer wieder durchaus mit intellektuellem Anspruch das einzelne Werk (oder was man dafür hält) in den Blick nimmt.
Dem Rezensenten bleibt die Berücksichtigung der Operette Die Fledermaus gänzlich unverständlich – außer einem „Cross-Dressing“ ist hier nicht viel zu holen (selbst Franz von Suppés Boccaccio wäre da um ein Vielfaches ergiebiger gewesen). Die Auswahl der besprochenen Werke bleibt Ansichtssache – und es ist erfreulich hier nicht nur Schuberts Fierrabras oder Zemlinskys Florentinische Tragödie, sondern auch Thomas Adès’ Powder Her Face oder Péter Eötvös’ Angels in America entdecken zu können. Ärgerlich bleiben aber einige empfindliche Lücken – musikhistorisch wie auf die eine oder andere Weise unmittelbare schwule Implikationen betreffende. Wieso fehlen Opern von Leonardo Vinci, bei dem wegen des Verbotes von Frauen auf der römischen Barockbühne Kastraten grundsätzlich Männer- wie Frauenpartien darstellten? Wie kann es sein, dass Michael Tippetts King Priam mit einer großen Liebesszene Achilles-Patroclus keine Werkbesprechung erhält? oder Benjamin Brittens Albert Herring mit dem herrlichen Spiel um eine „May Queen“/„May King“? Und wie kann es sein, dass Richard Strauss’ Capriccio mit der herrlichen Schlussszene fehlt, in der sich fast jeder Schwule mit der Comtesse identifizieren kann, die sich zwischen zwei Männern (bzw. zwischen Poesie und Musik) entscheiden soll: Gibt es eine Lösung, fragt sie, „die nicht trivial ist?“
In der vorliegenden Publikation sind die diskografischen Hinweise wegen ihrer extremen Subjektivität in keinerlei Weise hilfreich. Weitaus spannender sind die klugen Angaben zu weiterführender Literatur, die dem Interessierten in vielfacher Hinsicht neue Perspektiven eröffnen können. Die überaus wertige Ausstattung der durch Crowd Funding finazierten Publikation mit durchgängig vierfarbigen Abbildungen (die in auffallend vielen Bühnenfotos halbnackte Männer zeigen), einem Glossar, einem Register und ausführlichen Informationen zu den Autoren komplettiert die inhaltlich ambitionierte, sich aber in ihrer Selbstbeschränkung auf geläufigeres Repertoire zu wenig aussagekräftige Veröffentlichung.
Jürgen Schaarwächter
Karlsruhe, 28.03.2020