Enescu im Kontext / Hrsg. von Violeta Dinescu, Michael Heinemann und Roberto Reale.– Oldenburg : BIS-Verlag 2019. – 419 S. (Archiv für osteuropäische Musik – Quellen und Forschungen ; 5)
ISBN 978-3-8142-2379-7 : € 36,80 (kart.)
Im 19. Jh. haben die meisten Völker außerhalb des deutsch-österreichischen Kulturraums ihre Nationalkomponisten, mit denen ihre musikalische Zeitrechnung fest verknüpft ist. Was für Russland Michael Glinka, für Polen Stanislaw Moniuszko und Fryderyk Chopin, das ist für Rumänien George Enescu (1881-1955): Impulsgeber und Bezugspunkt, dessen Name die Musik seiner Heimat in ein Davor und ein Danach unterteilt. Doch so unumstritten seine Bedeutung für Rumänien als Kulturraum ist – im Westen bleibt er bis heute ein großer Unbekannter. Dass er ein Wunderkind, ein gefeierter Geiger, ein makelloser Pianist, inspirierender Dirigent und bedeutender Lehrer war, dass er zwei Rumänische Rhapsodien geschrieben hat, die ihn als Komponisten populär machten – das mag es gerade noch ins Kernwissen geschafft haben. Doch seine Oper Œdipe, seine Kammermusik, seine Schriften und sogar seine Vita bleiben außerhalb seiner Muttersprache ein seltsam fremdes Terrain. Das ist auch wenig verwunderlich, denn bereits beim Begriff der „Muttersprache“ beginnt das Phänomen Enescu, komplex zu werden: Im damals frisch gegründeten Königreich Rumänien geboren, in Wien ausgebildet, in Paris gestorben, war Enescus Arbeiten und Denken polyglott. Doch Forschungsliteratur existiert primär auf Rumänisch oder geht auf rumänische Autorinnen und Autoren zurück.
Das trifft zwar auch auf weite Teile des vorliegenden Bandes zu, doch sind hier die Texte gezielt für den wechselseitigen Austausch mit deutschsprachigen Interessierten entstanden. Denn der Band Enescu im Kontext aus der Schriftenreihe Archiv für osteuropäische Musik – Quellen und Forschungen basiert im Wesentlichen auf Symposien, die 2006 in Oldenburg und 2011 in Delmenhorst abgehalten wurden. Im Rahmen dieser von der Komponistin Violeta Dinescu initiierten Tagungsreihe wird seit Jahren konstant zu rumänischer Musik geforscht und gearbeitet – und es ist der einzige Ort außerhalb Rumäniens, an dem alljährlich der disziplinübergreifende Austausch von Wissenschaft, Musik und Kunstdiskurs derart aktiv praktiziert wird. Die Intensität der gemeinsamen Beschäftigung und des konstruktiven Diskurses spürt man dem vorliegenden Buch an; es ist nach Arbeiten zu den Komponisten Stefan Niculescu und Pascal Bentoiu, zur Gattung der „Doina“ und zum „Raum in der Musik“ bereits der fünfte Band der Schriftenreihe.
Der bedeutsame Anteil, den Herausgeber und Übersetzer an der sprachlichen Gestalt des Tagungsbandes haben, kann wohl nicht deutlich genug wertgeschätzt werden. Dennoch zieht sich durch alle „osteuropäischen“ Beiträge ein spezifisch rumänischer Duktus, eine spezifisch osteuropäische Denk- und Betrachtungsweise, die sich darin manifestiert, dass einerseits der Ort der rumänischen Musik in der universellen Geistesgeschichte ausgelotet und andererseits eine fühlbare emotionale Nähe zum Forschungsgegenstand gepflegt wird. Diese Wärme, die auch einen Gutteil Verehrung der Person Enescus aufweist, mutet gegenüber dem eher sach-fokussierten deutschen Ansatz zunächst fremd an; doch im Laufe der Symposien – und so auch in dem vorliegenden Buch – hat sich daraus eine wechselseitige Bewegung aufeinander zu entwickelt: Der doppelte Blick, den die Schriftenreihe sich zum Anliegen gemacht hat, profitiert von der Pluralität der möglichen Wege hin zu Enesu ganz außerordentlich. Transkulturelle Forschung wird in diesem Band nicht thematisiert, sondern praktiziert.
Dementsprechend umfasst das erste Großkapitel, Paris, nicht nur Charles Koechlins 1935 publizierte Erinnerungen an die Kompositionsklasse Massenet (in der Enescu in seiner französischen Namensform „Enesco“ erscheint), sondern auch einen eigenständigen Beitrag zu Koechlin selbst (von Otfrid Nies). Erfreulich ist, dass gleich der dritte Beitrag (Adalbert Grote: Enescu in Paris – Eleve des Conservatoires) ausführlich auf Musik eingeht und mit zahlreichen Notenbeispielen unterfüttert ist.
Das ist im Großkapitel Poetik (das präziser „Musikdenken“ oder „geistige Bezugsfelder“ heißen könnte) weniger möglich; hier konzentrieren sich die durchweg rumänischen Autoren auf Enescus Universalität und Ethos (Gheorghe Firca), Enescu und die Synergie der Musik im Abendland (Dan Dediu), Enescus ‚musikalische Zeit‘ (Corneliu Dan Georgescu), Kadenzielle Syntagmen in der Musik von Enescu (Valentin Timaru) und Stilistische Absorption und originelle Transfiguration in Enescus Poetik (Alexandru Leahu). – Und ja, man muss sich auf Fremdwort-Konstruktionen und weiträumiges Denken einlassen, wenn man in rumänisches ‚Sprechen über Musik‘ eintauchen möchte.
Kernkapitel des Bandes ist der Großabschnitt Analysen, der eine methodisch vielschichtige und multiperspektivische Annäherungen an Enescus musikalisches Werk bietet – und zwar anhand von zentralen Kompositionen: Enescus Octuor (Martin Kowalewski), seine Oper Œdipe (Mihai Cosma, John Sorensen, Roberto Reale, Marin Marian-Balasa), die Dritte Violinsonate (Eva-Maria Houben), die Kammersinfonie (Rainer Cadenbach) und die Klaviersuite op. 10 (Raluca Stirbat).
Michael Heinemanns Beitrag Herkunft und Gegenwart. Zu George Enescus ‚Suite im alten Stil‘ bildet die Überleitung zum Großkapitel Kommentare, in dem sich ein Beitrag zu Enescus Dixtuor (Pascal Bentoiu) und ein zentraler Text der Komponistin Myriam Marbe von 1971 (erneut zur Oper Œdipe) finden. Die analytischen Ansätze werden in diesem Großkapitel ausgeweitet auf die Fragestellungen Enescus Einstellung zur Arbeit und über die Zeit, die er dem Komponieren gewidmet hat (Stefan Nicuelscu) und Das Drama von Enescus Genie: die Vielseitigkeit seiner natürlichen Begabungen (Viorel Cosma). In den Großkapiteln Analysen und Kommentare bewundert man die geistesgeschichtliche Breite der Beiträge rumänischer Komponisten (die allesamt zugleich Musiktheoretiker und Musikwissenschaftler sind); gleichzeitig ist man dankbar für die zahlreichen Notenbeispiele. Denn bei der Lektüre lernt man dadurch einerseits, den Blick über die Grenzen von Musik hinaus und wieder zur Musik zurückzulenken, andererseits sich tief in die Details der Musik zu vertiefen – ein Dualismus, der in seiner Verbindung zu geglückten Augenblicken wissenschaftlicher Kunst-Erhellung beitragen kann.
Der Schlussteil, Perspektiven, verbindet erneut musikwissenschaftliche und musiktheoretische Perspektiven: Der Hamburger Komponist Wolfgang Andreas Schulz fragt nach Aspekten der Weiterentwicklung von Enescus Tonalität. Der rumänische, in Deutschland lebende Komponist und Musikwissenschaftler Corneliu Dan Georgescu denkt über Musikarchetypen nach. Speranta Radulescu reflektiert über mögliche jüdische Einflüsse. Laura Manolache findet in Enescus Schaffen „ein Modell für die europäische Synchronisierung der rumänischen Musik (in der Nachkriegszeit)“. Der deutsche Musikwissenschaftler Helmut Loos widmet sich der Enescu-Rezeption in Deutschland, Maria Christiana Bostan stellt auf Englisch neue Dokumente zu Enescu vor, und Valentina Sandu-Dediu öffnet den Blick auf Rumänische Musik nach Enescu. Eine Auswahlbibliographie und Nachweise zu Entstehung und Übersetzung der einzelnen Beiträge runden den Band ab.
Enescu im Kontext erweist sich als ein vielschichtiger Fundus für die Beschäftigung mit Enescu, führt aber auch in die rumänische Musik ein und zugleich in eine besondere Art von Musikdenken auf der Grenze zwischen Orient und Okzident. In Kombination mit den Untersuchungen der deutsch- und englischsprachigen Wissenschaft bringen die mannigfach untereinander verbundenen Beiträge musikzentrierte, kompositionsspezifische, rezeptionsgeschichtliche sowie musik- und kulturphilosophische Aspekte zu einem facettenreichen Ganzen zusammen. Die Vielfalt der – im Detail manchmal hermetischen, in der Zusammenschau aber sinnerzeugenden – Ansätze und Schreibweisen sei nicht nur denjenigen ans Herz gelegt, die sich mit Enescus Musik oder der Musikkultur Rumäniens beschäftigen möchten, sondern auch denjenigen, die sich grundsätzlich für den Pluralismus wissenschaftlicher Zugangswege hin zu einem Gegenstand interessieren. Der Sammelband ist ein einzigartiger Informationspool, der in der Vielfalt seiner Beiträge jenes weite Spektrum abbildet, ohne das das ‚Phänomen Enescu‘ sich nicht begreifen lässt. Die immense Vielfalt der methodischen Ansätze erweist sich dabei als eine klare Bereicherung.
Kadja Grönke
Oldenburg, 08.03.2020