„Diesen Kuß der ganzen Welt“. Die BEETHOVEN-SAMMLUNG der Staats-bibliothek zu Berlin / Hrsg. von Friederike Heinze [u.a.] im Auftrag der Staatsbibliothek zu Berlin Preußischer Kulturbesitz – Petersberg: Imhof, 2020. – 208 S.: Abb.
ISBN 978-3-7319-0914-9 : € 29,95 (geb.)
Beethoven ist jener Komponist, den das seltsame Schicksal ereilte, mit der schlechtesten seiner Kompositionen am berühmtesten zu werden. Und so ziert auch diesen Begleitband zur Beethoven-Ausstellung der Berliner Staatsbibliothek eine Zeile aus Schillers blind-euphorischem Jubelgedicht An die Freude. Unabhängig davon, welche affirmativ völkerverbindende Wirkung die als vierter Satz an seine 9. Sinfonie gehängte Ode an die Freude inzwischen entfalten konnte (Nancy Tanneberg weiß im Begleitbuch Rührendes darüber aus der musikalischen Arbeit in Asien und Afrika zu berichten), ist ihre Botschaft bei genauerem Hinsehen doch eher inhuman, weil sie unterstellt, nur kraft der Freude könnten sich die Menschen brüderlich verbinden. Und so steht auch „die Neunte“, wie man sie verkürzt nennt (und alle glauben zu wissen, was damit gemeint sein soll), quasi im Zentrum der Ausstellung, denn man läuft auch direkt auf den ihr gewidmeten Teil an der abschließenden prunkenden und winkenden Wand des Humboldt-Saals zu ‑ an allen anderen Exponaten vorbei. Dennoch gelingt es den autographen Exponaten, die verwickelte und komplizierte Entstehungsgeschichte dieses Kolosses zu diesem Kapitel der Beethovenschen Produktion zu dokumentieren. Philosophische Ideen mehr als musikalische Einfälle spielten hier wohl eine große Rolle.
Diesem suggestiven ersten Eindruck zum Trotz enthalten die Vitrinen und Schaubilder der anderen Abteilungen der Ausstellung höchst interessantes Material, das nicht katalogartig, aber doch in einer gewissen Parallelität zu den ausgestellten Exponaten auch in den Essays des Begleitbandes dokumentiert und kommentiert wird. Man erfährt auch und kann mitanschauen, wie aus den Leonoren-Fassungen Beethovens einzige Oper Fidelio wurde. Die Exponate stammen alle aus der umfangreichen und kostbaren Sammlung der Berliner Staatsbibliothek und sind hier vorübergehend aus ihrem Dornröschenschlaf in den Verliesen des Hauses Unter den Linden befreit. Dr. Martina Rebmann, die Leiterin der Musikabteilung der Staatsbibliothek, berichtet im Band über den kostspieligen und langwierigen Erwerb von Beethoveniana über die Jahrzehnte des 19. und 20. Jahrhunderts hinweg.
Beethoven war übrigens auch in Berlin, als 25-Jähriger (1796), um sein 1. Klavierkonzert vor dem preußischen König zu exekutieren und um bei zwei Sitzungen der noch von Carl Friedrich Christian Fasch geleiteten Singakademie am Klavier zu phantasieren; seine frühen Violoncellosonaten op. 5 widmete er dem preußischen König Friedrich Wilhelm II. und sein 3. Klavierkonzert dem preußischen Kronprinzen Louis Ferdinand. Wieviel Verständnis man in Berlin in der Leitung der Singakademie für das instrumental-vokale Doppelkonzept Beethovens hatte, zeigt die Bitte Carl Friedrich Zelters an Beethoven, ihm für seine Singakademie doch eine A-cappella-Version von dessen Missa solemnis anzufertigen.
Wer Einblicke in Briefe Beethovens (darunter den berühmten an die Unsterbliche Geliebte) oder in seine Konversationshefte und Skizzenbücher tun möchte, ohne die ein Verständnis der Arbeits- und Lebensweise dieses relativ früh schwerhörigen und dann ertaubten Musikers schwer möglich ist, hat hier ausreichend Gelegenheit. Auch die an Herders Ideen gemahnenden Bemühungen Beethovens um die Veredelung europäischer Volkslieder mithilfe eines begleitenden Klaviertrio-Satzes werden hier dokumentiert. Man blickt erstaunt auf die Autographe und wird gewahr, dass Beethoven von manchen Liedern zwar die Melodie überliefert bekam, aber den Text nicht kannte und rein musikalisch operierte.
Auch wenn die Ausstellung im Moment und vielleicht für den ganzen Zeitraum ihrer projektierten Öffnung bis zum 30. April wegen der gefährlichen Epidemie der 19. Variante des gekrönten Grippevirus nicht gezeigt werden kann, so bleibt doch dieser Begleitband als Ersatz und mit eindrucksvollen Wiedergaben von Teilen der interessanten Exponate und mit erhellenden Kommentaren erhalten und sollte erworben werden. Glücklicherweise kann man sie nun auf der homepage der Bibliothek virtuell besuchen: https://blog.sbb.berlin/diesen-kuss-der-ganzen-welt-beethoven-ausstellung/.
Vor einhundert Jahren, zum 150. Geburtstag Beethovens, musste die damals von Wilhelm Altmann gestaltete Ausstellung der Berliner Staatsbibliothek übrigens verlängert werden und es gab Führungen für Schulklassen und Volkshochschulen. Leben wir immer noch in so bildungsbeflissenen Zeiten? Schön wärs!
Peter Sühring
Berlin, 15. März 2020