Walter-Wolfgang Sparrer: Isang Yun. Leben und Werk im Bild. – Hofheim: Wolke, 2020. – 304 S.: Farb- und s/w-Abb. Notenbeisp.
ISBN 978-3-95593-117-9 : € 48,00 (geb.)
Mit dem Bildband über Isang Yun liegt nun endlich eine Monografie in Dokumenten zu Leben und Werk des koreanisch-deutschen Komponisten vor. Der Autor Walter-Wolfgang Sparrer, unter anderem Herausgeber des laufend erweiterten Lexikons „Komponisten der Gegenwart“, ist auch als Konzertveranstalter, Produzent einer CD-Edition, Verfasser unzähliger Texte, Radiosendungen und durch seine Mitwirkung an Fernseh- und Filmproduktionen nicht nur maßgeblicher Kenner des Komponisten, sondern auch dessen unermüdlicher Promoter, allein durch die von ihm gegründete „Internationale Isang-Yun-Gesellschaft“. Das vorliegende Buch ist keine Biografie im literarischen Sinne, es bietet dem Leser etwas anderes: Dokumente (nebst Erläuterungen und einigen ausführlicheren Texten), die sich – objektive Distanz verheißend, doch ihrem Wesen nach nicht weniger subjektiv – nicht nur zu einem Bild des Menschen Isang Yun, sondern auch seines Werkes und seiner Lebenswelt(en) zusammenfügen. Das Prinzip eines ikonischen Werkes, den Inhalt nicht in erster Linie sprachlich zu vermitteln, nutzt der Autor im dreisprachigen Abdruck aller begleitenden Texte – deutsch, koreanisch und englisch –, was noch zusätzlich einen weiten Leserkreis anspricht.
Die Idee zu dieser Publikation geht zurück auf eine Ausstellung, die Walter-Wolfgang Sparrer für das Foyer der Berliner Philharmonie anlässlich des 100. Geburtstages von Isang Yun im September 2017 konzipiert hatte. Für das Buch behielt Sparrer die inhaltliche Struktur weitgehend bei, erweiterte sie aber um etliche Dokumente und Texte.
Gegliedert ist die Monografie in fünf konzentrisch angeordnete Kapitel, die jeweils vier Abschnitte umfassen. Der erste Themenblock behandelt Kindheit, Jugend und Studienzeit Yuns bis in die Zeit des Zweiten Weltkriegs, sowie das seit dem Jahre 2000 jährlich in Tongyeong stattfindenden Tongyeong International Music Festival – der Stadt, in deren Nähe Isang Yun geboren wurde und in der er aufwuchs. Korrespondierend hierzu stehen im Schlusskapitel die letzten Jahre Isang Yuns im Zentrum. Ebenso beziehen sich das zweite und vierte Kapitel aufeinander – im ersteren behandelt Sparrer die kulturellen Prägungen und Voraussetzungen des Yunschen Musikdenkens (im Abschnitt: „Ton und Tao“), im vierten, dem vorletzten Kapitel stehen einzelne Werkgruppen, die Entfaltungen gewissermaßen – Musiktheater, Solokonzerte und Werke für Soloinstrumente – im Mittelpunkt der Betrachtung.
Das zentrale Kapitel ist dem zweijährigen Martyrium Isang Yuns, der Entführung durch den südkoreanischen Geheimdienst im Juni 1967, der Verhaftung, Folterung und Einweisung in ein Seouler Gefängnis und später in ein Krankenhaus, mehreren Prozessen und seiner Rückkehr nach Deutschland gewidmet. Die von der Militärdiktatur sanktionierte Freiheitsberaubung ist eines der wohl dunkelsten Kapitel der diplomatischen Beziehungen zwischen Südkorea und der Bundesrepublik Deutschland. Yun, und mit ihm 17 weiteren aus Deutschland verschleppten Koreanern, unter ihnen Wissenschaftler und Schriftsteller, wurde in den Prozessen Spionagetätigkeit für den kommunistischen Feind vorgeworfen. Im Falle Yuns basierten die Vorwürfe auf einem von der nordkoreanischen Botschaft in Ostberlin vermittelten Besuch in Nordkorea im Jahre 1963. Die im Buch abgedruckten Dokumente, Zeitungsartikel, Manifeste, Erinnerungsprotokolle und mehr, belegen eindrücklich das Engagement zahlreicher Künstler und oppositioneller Gruppen dieser Zeit, etwa des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes (SDS), zum anderen aber die zögerliche Taktik der Bundesregierung unter dem seinerzeitigen Bundeskanzler Kurt Georg Kiesinger und dessen Amtsnachfolger Willy Brandt.
Isang Yuns, des Weltenwanderers, Leben, das nach diesem existenziellen Einschnitt in ein Davor und ein Danach zerschnitten war, lehnte – zumindest in seinem „ersten“ Leben – Musik als Werkzeug politischen Handelns ab. Spätestens die traumatischen Erfahrungen der Jahre 1967 bis 1969 bewirkten eine Neubewertung dieser Überzeugung. Als im Mai 1980 Massendemonstrationen stattfanden und der Volksaufstand von Kwangju, beides als Reaktion auf den Putsch des Generals Chun Doo-Hwan, von Regierungstruppen blutig niedergeschlagen wurde – es soll mehr als 2.000 Tote gegeben haben –, reagierte Yun mit der Kantate Teile dich Nacht nach Texten von Nelly Sachs und mit dem Orchesterwerk Exemplum in memoriam Kwangju unmittelbar auf diese Ereignisse. Die Aufführung des Exemplum um 1983 in P‘yŏngyang dürfte der Beginn der Yun-Rezeption in Nordkorea gewesen sein. Eine Zeit lang war Isang Yun die einzige Persönlichkeit von Rang, die sowohl im Süden als auch im Norden des Landes offiziell anerkannt war (inzwischen könnte sich das infolge aktueller politischer Entwicklungen wieder geändert haben).
Das Buch ist von einer Zeitleiste durchzogen, die nur an wenigen Stellen durchbrochen wird, am auffälligsten im ersten Kapitel durch den Abschnitt über das Musikfestival in Tongyeong (der hierdurch einen Rahmen zu den Entwicklungen in P’yŏngyang seit 1983 bildet). Der Blick auf die Zeitleiste offenbart die erstaunliche Tatsache eines in exakt zwei Lebenshälften geteilten Werkes: Ein hierzulande unbekanntes Frühwerk, das mit Liedern des 13jährigen einsetzt und andererseits der vom Komponisten als gültig erachtete Werkkatalog seit der Übersiedlung nach Paris und dann Berlin im Jahre 1956 samt erneutem Studium, nun bei Boris Blacher und Josef Rufer. (Nicht wenige Werkverzeichnisse von Komponisten des 20. Jahrhunderts teilen dieses Los: Man denke nur an György Ligeti oder Mauricio Kagel, der eine mit einem ungarischen, der andere mit einem argentinischen Frühwerk).
Die Auswahl der Bilddokumente reicht von Porträts, darunter etliche Musiker, die sich um Yuns Musik verdient gemacht haben, über historische Stadtansichten, Festivalplakate, Zeitungsausschnitte, Manifeste, Entwürfe zu Werkkommentaren und vielem mehr. Die Musik Yuns kommt dank zahlreicher Partiturabbildungen nicht zu kurz (einzig Fotografien von Yuns Wohnstätten fanden keinen Platz). Um nur einzelne Beispiele aus der Fülle des Materials hervorzuheben: Ein die patriarchalische Würde einer versunkenen Kultur beschwörendes Portrait des Vaters (S. 23), Yuns japanischer Lehrer Tomojirō Ikenouchi auf dem Oberdeck des Ozeandampfers Hikawa Maru (S. 39), die farbenprächtige Aufführung der koreanischen Schreinmusik Chongmyo-chereak (S. 119) oder Martha Mödl als Schamanin in der Oper Geisterliebe (S. 197). Und eine großartige Ausdrucksstudie aus Licht und Schatten ist das Porträt, das der bedeutende Berliner Fotograf Fritz Eschen 1960 geschaffen hat (S. 211). Der rein ästhetischen Bewertung entziehen sich indes die Fotografien aus den Seouler Gefängnissen und von den Ereignissen in Kwangju, sie sind umso erschütternder.
Miteinander verbunden und erläutert werden die Dokumente durch – der Konzeption des Buches gemäß – knapp gehaltene Texte Walter-Wolfgangs Sparrers, die durch ihre Klarheit und Präzision den Leser in Yuns Gedankenwelt einführen.
Jeder, der sich für Isang Yun, aber auch für koreanische Musik und Kultur interessiert, sollte diesen prachtvollen Bildband – vom Wolke-Verlag vorzüglich hergestellt – in die Hand nehmen.
Inhalt
Rüdiger Albrecht
Berlin, 13.04.2020