Bruno Preisendörfer: Als die Musik in Deutschland spielte. Reise in die Bachzeit. – Berlin: Galiani, 2019. –480 S.
ISBN 978-3-86971-190-4 : € 25,00 (geb., auch als e-Book)
„Hier spielt die Musik!“ ruft man, wenn jemand sich versehentlich oder mutwillig abwendet, einen Nebenschauplatz wichtiger nimmt oder sich hat ablenken lassen. Besser würde der Titel des vorliegenden Buches lauten: Wie die Musik in Deutschland spielte, denn als die Musik angeblich besonders intensiv in Deutschland spielte, spielte sie genauso und mitunter noch viel mehr auch in Italien, Frankreich, England, Polen, Böhmen und vielen andern Ländern was man allein, was Bach betrifft, an seinem Italienischen Konzert, seinen Französischen und Englischen Suiten, seinen Polonaisen ablesen kann. Von Telemann, der unter polnischen Musikern groß wurde und der Vertreter par excellence des „vermischten Geschmacks“ war, und von Händel, der, in Italien erzogen, nach London übersiedelte, ganz zu schweigen. Man könnte also Telemanns von Preisendörfer zitierte Behauptung, die musikalischen Meister seien zurzeit nicht mehr in Venedig, Rom, Paris und London zu suchen und zu finden, sondern in Teutschland, auch dahingehend verstehen, dass die deutschen Musiker die erfolgreichsten Schüler der Meister aus anderen musikalischen Ländern waren und anfingen, sie nachzuahmen und zu überbieten ganz im Sinne des Herrn Quantz, der in seiner Flötenschule von 1752 Folgendes (von Preisendörfer nicht zitierte) verlautbarte: „So schlecht es aber in den vorigen Zeiten, bey aller gründlichen Einsicht der deutschen Componisten in die Harmonie, mit ihrem, und der deutschen Sänger und Instrumentisten ihrem Geschmacke ausgesehen haben mag: so ein anderes Aussehen hat es doch nunmehr nach und nach damit gewonnen. Denn wenn man auch von den Deutschen nicht eben sagen kann, daß sie einen eigenthümlichen, und von den andern Nationalmusiken sich ganz unterscheidenden Geschmack hervor gebracht hätten: so sind sie hingegen desto fähiger, einen andern, welchen sie nur wollen, anzunehmen; und wissen sich das Gute von allen Arten der ausländischen Musik zu Nutzen zu machen. (§ 82 innerhalb des XVIII. Hauptstücks „Wie ein Musikus und eine Musik zu beurtheilen sey“).
Insofern hat Preisendörfers Buch allein schon durch seinen Titel und die in ihm sich kundtuende historisch falsche Grundannahme eine Schieflage, die es auch im Verlauf der mannigfaltigen Schilderungen des musikalischen Lebens in Deutschland zur Zeit Bachs nicht wieder los wird, weil Preisendörfer von seiner fixen Idee einer alles andere überragenden Bedeutung der drei deutschen Großmeister Bach, Händel und Telemann nicht lassen kann, auch wenn er manchmal ironisch mit ihr spielt oder nationalistische Konsequenzen daraus bei anderen Autoren zu Recht anzweifelt oder gar ins Lächerliche zieht. Sicherlich wäre damals keiner auf die Idee gekommen die sächsische Provinzgröße Bach mit den europäischen Größen Vivaldi oder Rameau zu vergleichen, aber man hat den Eindruck als wollte Preisendörfer sich erdreisten und seinen heute globalisierten Halbgott Bach mit jenen beiden Provinzmusikern aus Venedig und Paris vergleichen.
Mag sein, dass die Vergötterung der drei deutschen Musiker durch die persönliche musikalischen Sozialisation Preisendörfers bedingt ist (während dem Rezensenten schon als Jugendlichem bei einer Arie aus Rameaus Les Indes galantes der Mund offen stehen blieb), und er die anderen europäischen Großen und Kleinen, von denen die drei Genannten einerseits stets abhängig waren, andererseits sie auch punktuell überboten, einfach zu wenig kennt und sich für das Buch auch nicht bemühte, sie kennenzulernen, um ein etwas gerechteres gesamteuropäisches Bild der damals spielenden Musik zu geben. Aber Preisendörfer folgt mit dieser Grundhaltung natürlich auch den Einflüsterungen eines germanozentrischen Hauptstroms der deutschen Musikgeschichtsschreibung. Dieser fließt in Konstruktionen von Dreigestirnen dann bekanntlich weiter fort: nach einem musikalischen Barock mit Bach, Händel, Telemann, dann weiter über eine Klassik mit den Wienern Haydn, Mozart, Beethoven als Zentrum der musikalischen Weltkultur, über Mendelssohn-Schumann-Brahms als typisch für eine deutsche Romantik bis hin zu Wagner-Mahler-Strauss als Wegbereiter der Moderne. Es ist dies im Übrigen das genaue Gegenteil einer alternativen, alles durchforstenden Geschichtsschreibung, die sich gerade um die Randerscheinungen, das Unterdrückte und Vergessene, sich um die von Walter Benjamin beschworenen Abfälle und Lumpen der (Musik)Geschichte kümmert, um ein lebendiges Bild der Geschichte zu gewinnen, in dem die bisherigen Helden und Heldinnen relativiert wären.
Preisendörfer versucht auf andere Weise, ein lebendiges Bild des musikalischen Alltags der Zeit zu gewinnen, und er macht durchaus Anläufe, andere, von ihm als fragwürdig erkannte gängige Pauschalisierungen zu unterlaufen. Z. B. kann er auf eine glänzende Weise Argumente auftischen, die die Rede von einem musikalischen Barock ad absurdum führen, indem er auf die widersprüchlichsten Zeitdokumente, die alles andere als ein einheitliches Bild einer Epoche geben, verweist. Abgesehen von etlichen Schnitzern (wo man stutzt und sich fragt, wie er auf solchen Unsinn kommt, wo er das wohl abgeschrieben haben mag), wie z.B. dem, dass der 19-jährige Schumann (von Leipzig aus?) oder Heine (von München aus?) an der ersten stark bearbeiteten Wiederaufführung der Bachschen Matthäuspassion unter Mendelssohn in Berlin 1829 teilgenommen haben sollen, verarbeitet Preisendörfer eine Unmenge von Primärquellen der Zeit und noch mehr Sekundärquellen über die Zeit, die auch das Umfeld seiner drei Titanen, deren Namen stets fett gedruckt sind, beleuchten und in ihren Wechselbeziehungen lebendig werden lassen. Er kann so auch mehr als plausibel machen, dass bestimmte Musiker, selbst seine drei Heroen Bach, Händel und Telemann (wobei man schon froh sein kann, das Letzterer überhaupt dazu gezählt wird, was lange verpönt war) nicht nur Genies waren, sondern auch Menschen, deren Art Musik zu machen und zu erfinden zwar nicht auf ihre äußerliche Existenz und Erfahrungen reduziert werden kann, aber doch mit Handwerk, Konventionen, alltäglichen Lebensumständen ganz profaner Art verknüpft war.
Dennoch wird nicht einmal deutlich, dass Bach mehr war als jener „notorische Thomaskantor“ als den auch Preisendörfer ihn apostrophiert. Gern hätte man gerade von Preisendörfer erfahren, was sich im Leben Bachs vor dessen Leipziger Zeit in Mühlhausen, Weimar und Köthen abgespielt hat, wie Bachs Musik dort gespielt hat, schließlich stammt ein Großteil der von Preisendörfer abgöttisch geliebten Musik, wie „die Chaconne“ nicht aus Leipzig. Und wenn schon Leipzig und wenn schon die Bachschen Passionen als Beispiele des Allererhabensten und -schwierigsten, wenn schon auch mal die Johannespassion erwähnt wird, dann hätte man doch gerne die Unterschiede zwischen ihren beiden extrem verschiedenen Fassungen von 1724 und 1725 wenigstens angedeutet bekommen, statt nur die schnöde Mitteilung, Bach habe sie bearbeitet. Und man muss sich fragen, ob Preisendörfer die 1725er Fassung je gehört hat, jene ohne „Herr unser Herrscher!“ als Eingangschor.
Es gibt auch andere Schieflagen und seltsame Prioritätensetzungen in diesem munter erzählenden Buch über etliche Regionen und Zeitläufte Deutschlands und Europas. Viel erfahren wir über den Hannoveraner auf dem englischen Thron oder über das Trompetengeschmetter bei den Zeremonien des brandenburgischen Kurfürsten Friedrich, der sich selbst zum König in einem außerhalb des bisherigen Territoriums liegenden und nur geliehenen Teil von Preußen krönte, wenig aber über dessen musische Gattin, einer Hannoveranerin neben dem ersten preußischen Thron. Sie wird nur als dessen Gattin und Mutter des späteren Soldatenkönigs erwähnt und als Teilnehmerin einer von ihr inszenierten Maskerade „in Charlottenburg“. Die überragende Rolle der Musik, die in Sophie Charlottes Schloss (das damals noch Lietzenburg hieß) spielte und ganze Opern und Sonatenzyklen hervorbrachte, wird verschwiegen; hier waren andere Instrumente als Pauken und Trompeten gefragt und wurden andere Aufführungsgründe als protzige Repräsentation gesetzt, hier spielte echte, verständnisvolle Liebe zur Musik als Kunst eine große weibliche Rolle.
Und so geht es in diesem illustren Buch munter zwischen Richtigem und Falschem, Klarstellendem und Verunklarendem, Schrägem und Aufrichtigem hin und her und man staunt, wie der Autor aus den auf 65 Seiten im Anhang ausgebreiteten Nachweisen und Quellenangaben so viele triftige und auch abwegige Schlussfolgerungen ziehen konnte. Das Buch zu lesen, seine Art, wie es geschrieben ist, bereitet Lust und Wohlbehagen, an ziemlich vielen Stellen aber trügt der schöne Schein, sodass Vorsicht geboten ist.
Peter Sühring
Bornheim, 15.04.2020