Karl-Georg Schroll: Bandonion-Vereine. Vereint – beliebt – vergessen [Michael Stapper]

Karl-Georg Schroll: Bandonion-Vereine. Vereint – beliebt – vergessen. Arbeitermusik zwischen „Lust & Leben“ und „Profitum“. – Wiltingen: blattFuchs, 2020. – 476 S.: zahlr. S/W-Fotos, Abb. u. Tab.
ISBN 978-3-946652-26-7 : € 24,80 (Softcover)

Wussten Sie, dass es Mitte der 1920er Jahre Tausende von Bandonionvereine gab?“ – Diese Frage hat Karl-Georg Schroll wiederholt gestellt. Die Antworten waren ernüchternd, wie der Leser in einem persönlichen Nachwort der vorliegenden Abhandlung erfährt (S. 426): „Was ist ein Bandonion?“. Nun, diese instrumententechnische Ahnungslosigkeit dürfte zumindest bei Musikliebhabern weniger ausgeprägt sein. Wer bei der Nennung des Namens (heute überwiegend als „Bandoneon“ geschrieben) noch kein konkretes Bild vor Augen hat, würde das Instrument bei einer Tango-Kapelle recht schnell zuordnen können. In diesem musikalischen Genre ist die Harmonika-Variante immer noch sehr präsent. Doch das Wissen um die unzähligen Vereine, die sich der Pflege dieses Instrumentes Anfang des letzten Jahrhunderts gewidmet haben, ist tatsächlich eher gering. In diese Lücke stößt der Autor Karl-Georg Schroll mit einer überaus eindrucksvollen und engagierten Untersuchung, in der seine Leidenschaft für das Bandonion und besonders für das soziale Umfeld immer präsent ist.
Auf über 450 Seiten seziert Schroll Instrument, Musiker, die Arbeiterbewegung und das zum Teil streng regulierte Vereinswesen. Mag es sich auch um ein Nischenthema handeln (für das sich in den 1920er Jahren immerhin bis zu 30.000 aktive Bandonionspieler begeistert haben), so zeigt schon der Umfang der Publikation, welches musik- und gesellschaftshistorische Potential darin liegt und wie gewissenhaft sich der Autor mit seinem Forschungsgegenstand beschäftigt hat. Sieben Seiten umfasst alleine das Inhaltsverzeichnis und dieser Überblick zeigt, dass Karl-Georg Schroll kaum einen Teilaspekt bei seiner Analyse übersehen hat. Auf der obersten Ebene gliedert der Autor seine Publikation in zwei Teile: Im ersten untersucht er die kulturellen, materiellen und ökonomischen Voraussetzungen, die die Entwicklung von Bandonion und der verwandten Konzertina möglich und für die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entstehende Arbeiterbewegung und Vereinsstruktur interessant gemacht haben. Im zweiten Teil stehen Anfänge und Ausbreitung des Vereinswesens im Mittelpunkt, wobei Schroll auch das Repertoire in Augenschein nimmt. Besonderes Augenmerk finden vereinspolitische Themen, die auf Verbandsebene stattfinden, und die Spannungen zwischen bürgerlichen und proletarischen Standpunkten. Auftrittsmöglichkeiten, die in den 1920er Jahren teilweise scharf geführte Diskussion zwischen etablierter Volksmusik und neuen musikalischen Strömungen vorwiegend aus den USA und die Vermarktung einzelner Künstler finden ebenso Beachtung. In den letzten Kapiteln sieht Schroll zunächst auf die Gleichschaltung der Vereine während der nationalsozialistischen Diktatur als auch auf den raschen Niedergang des Instrumentes und damit auch des Vereinslebens in der Nachkriegszeit.
In fachlicher Hinsicht ist die Untersuchung eindeutig in der Sozial- oder Politikwissenschaft angesiedelt. Dies liegt nahe, schließlich ist der 1945 geborene Autor zwar praktizierender Bandonionist, in erster Linie aber studierter Sozialwissenschaftler, der u. a. in Berlin und im Saarland beruflich als Verkehrsreferent tätig war. Vor diesem Hintergrund ist auch Schrolls im Nachwort geäußertes Anliegen zu verstehen, dass er sich eine „dezidiert musikwissenschaftliche Aufarbeitung und Einordnung“ (S. 426) durchaus wünschen würde. Als Schriftsteller veröffentlicht Schroll unter Pseudonym Kriminalromane und verlegt diese (wie auch die vorliegende Publikation) in seinem eigenen bei Trier gelegenen blattFuchs-Verlag. Die Idee zu einer Sozialgeschichte des Bandonions begleitet den Autor nach eigenen Angaben seit Jahrzehnten. In den 1980er Jahren legte er sich ein gebrauchtes Bandonion zu und begann seine Quellensammlung. Wiederholt verweist Schroll auf die sechs Umzugskartons mit Literatur, die er sich aus Archiven aus der Bundesrepublik und der damaligen DDR beschafft hat und die die Grundlage für eine Dissertation bilden sollten. Diese kam zwar nicht zustande, in der wissenschaftlichen Herangehensweise der vorliegenden Publikation nähert sich Schroll diesem Ziel jedoch an.
In seiner Bestandsaufnahme stützt sich der Autor überwiegend auf Originalquellen aus dem damaligen Vereinswesen, insbesondere auf die verbandseitig herausgegebenen Fachzeitschriften Gut Ton und Die Volksmusik. Zudem greift der Autor auf einige wenige Sekundärquellen zurück; die wissenschaftliche Beachtung des Instruments ist anscheinend noch ausbaufähig. Die Konzentration auf das vorhandene Quellenkonvolut ist in der Untersuchung immer präsent. Schroll wertet die Quellen sorgfältig aus, ordnet den Inhalt und präsentiert ihn auch mit Hilfe von Tabellen in übersichtlicher Form. Deutlich wird dies nicht zuletzt in der sehr kleinteiligen Kapitelstruktur auf fünf Ebenen. Selbst kleinste fachliche Einheiten werden solchermaßen in ein Gerüst eingepasst, was mitunter auf Kosten der Lesbarkeit geht und zudem eine Erwartungshaltung auslöst, die Schroll nicht immer einhalten kann. Während er den Leser auf einen Teilaspekt aufmerksam macht, bleibt er in der Ausführung auf die Erkenntnisse aus seinem Quellenbestand konzentriert. Die weitere Ausarbeitung unter Zuhilfenahme von aktueller und zusätzlicher Sekundärliteratur könnte hier den Erkenntnisgewinn erhöhen. Dies zeigt sich vor allem in den musikwissenschaftlichen oder –historischen Themen. So bleibt beispielsweise die Auseinandersetzung über zeitgenössische musikalische Gattungen (Schlager, Jazz, Tanzmusik etc.) relativ oberflächlich und hätte durch andere wissenschaftliche Forschungen angereichert werden können. Ausführlicher geht der Autor dagegen auf gesellschaftspolitische Entwicklungen ein. Differenzen zwischen verschiedenen Verbänden, soziale Verortung der Musiker, Streitthemen auf den Jahrestreffen, Spagat zwischen Bürgertum und Proletariat, Unterwanderung durch völkische Interessensvertreter – all dies sind Bereiche, in denen Schroll fundierte und lesenswerte Ergebnisse herausarbeitet.
Aus wissenschaftlicher Sicht betrachtet hätte der Untersuchung weitere Unterstützung durchaus gutgetan. Als Sparringspartner hätte ein Lektorat einzelne sprachliche und formale Unebenheiten glätten und den Lesefluss angenehmer gestalten können. Auch die Quellennutzung und –zitierweise könnte detaillierter sein. Und nicht zuletzt hätte ein fachlicher Austausch mit einem Betreuer, wie es ein Doktorvater oder eine Doktormutter sein könnte, weitere Perspektiven ermöglicht. Karl-Georg Schroll hat sich jedoch für ein „Ein-Mann-Unternehmen“ entschieden und er widmet sich dieser Arbeit mit so viel Sorgfalt, Ausdauer und Begeisterung, dass man etwaige Defizite problemlos überlesen kann. Wer sich für Harmonikainstrumente interessiert und deren lautstarke Existenz im volksmusikalischen Kontext überall auf der Welt wahrnimmt, der wird die Geschichte der Bandonionvereine mit Genuss lesen und auf die schon erwähnte musikwissenschaftliche Aufarbeitung gespannt warten. ”><br />
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Michael Stapper
München, 20.04.2020

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