Querschnitt. 111 Werke aus 50 Jahren. Wittener Tage für neue Kammermusik / Hrsg. von Harry Vogt und Rainer Peters. – Hofheim: Wolke, 2019. – 320 S.: s/w-Fotos.
ISBN 978-3-95593-111-7 : € 32,00 (geb.)
So unaufhaltsam, wie sich die Musik des vergangenen und des gegenwärtigen Jahrhunderts nach und nach aus der Tagesaktualität zurückzieht und den rasch wachsenden Fundus der Musikgeschichte unablässig vergrößert – oder darin verschwindet –, werden auch die Festivals neuer Musik, die ganz dem Heutigen verpflichtet sind, zu einem Teil dieser Geschichte. Von den großen Festivals, den Donaueschinger Musiktagen, den Darmstädter Ferienkursen und den Wittener Tagen für neue Kammermusik ist letzteres das kleinste zwar, doch das mit am besten dokumentierte. Bereits drei Bücher zur Geschichte der Wittener Tage für neue Kammermusik sind beim Wolke-Verlag erschienen: 2009 „Kammerton der Gegenwart“, 2018 Kammermusik der Gegenwart. Essays und nun das vorliegende Buch „Querschnitt. 111 Werke aus 50 Jahren“ (eine weitere Publikation aus dem Jahr 2007 von Frank Hentschel in den Beiheften zum Archiv für Musikwissenschaft lenkte den Fokus mehr auf die Frühgeschichte der Wittener Tage). Die 50 Jahre des Buchtitels markieren ein Jubiläum, das den Beginn einer ersten, wenn nicht gar zweiten Epoche der Wittener Tage unterschlägt: Die ersten Veranstaltungen – mit einer musikalisch gänzlich anderen Ausrichtung, musikantisch würde man heute sagen – fanden nur wenige Male zwischen 1936 und 1944 statt; 1947 wurden die Tage von dem seinerzeitigen Gründer Robert Ruthenfranz wiederbelebt. Ihm gelang es freilich nicht, das Festival überregional aufzubauen. Erst als neben dem Kulturamt Witten der Westdeutsche Rundfunk als zweiter mächtiger Partner mit ins Boot genommen und die Programmgestaltung im Jahr 1969 an Wilfried Brennecke übergeben wurde, hatte das Festival seine Ausrichtung gefunden, der es bis heute treu geblieben ist: Neue Musik internationaler Komponisten und Komponistinnen zu präsentieren, zumeist in Uraufführung, die dem in Darmstadt oder Donaueschingen gesetzten Niveau standhalten sollte. (Die Donaueschinger Musiktage wurden schon 1921 ins Leben gerufen, doch auch sie hatten einen Neuanfang im Jahre 1946, als sie in der Obhut des Südwestfunks Baden-Baden unter ihrem damaligen Musikchef Heinrich Strobel neu starteten).
111 Werke von 112 Komponisten also (Helmut Oehring und Iris ter Schiphorst arbeiteten eine Zeit lang als Komponisten- und Lebenspartner an gemeinsamen Werken), zwischen 1970 und 2018 in Witten aufgeführt, werden in dem reich bebilderten Buch vorgestellt. Aus jedem Jahrgang wurden bis zu fünf Werke ausgewählt, einige Jahrgänge gingen auch leer aus (so bereits das Neugründungsjahr 1969). Die Auswahlkriterien dürften – auch wenn man die Auswahl unter statistischen Gesichtspunkten betrachtet – von den Herausgebern sehr differenziert ausgearbeitet worden sein, für das Ergebnis gebührt ihnen jedenfalls höchstes Lob! Allein, dass keiner der großen Namen fehlt, auch die regionale Streuung ist ausgewogen (Boulez freilich, dem in diesem Buch kein Beitrag gewidmet ist, wurde nur wenige Male ins Wittener Programm genommen). An deutschen Komponisten gibt es, wie zu erwarten, einen deutlichen Überhang, doch neben die circa 40 westdeutschen Komponisten treten in immerhin sieben Beiträgen Komponisten der ehemaligen DDR. Das ist für die Wittener Tage insofern bezeichnend, als DDR-Komponisten auf anderen Festivals eher eine Nebenrolle spielten. Bis zur Wende 1989 war die Situation stets dieselbe: Im Westen wurde die Musik der DDR mit verhaltener Neugier wahrgenommen, wenn überhaupt; man war durchaus offen für Überraschungen aus dem so nahen wie zugleich unendlich weit entfernten Nachbarstaat, von dessen Musikleben man im Westen keine genauen Vorstellungen hatte. Die Überzeugung indes, dass die ästhetischen und materialtechnischen Fragen im Westen diskutiert werden, wurde kaum je in Frage gestellt. Diese Überheblichkeit gegenüber dem fremden Anderen wich nach der Wende einer knallharten und für beide Seiten ernüchternden Konfrontation: Aus den Boten einer anderen Welt waren nun Konkurrenten auf dem freien Markt geworden, was bekanntermaßen etliche Komponisten die Karriere (und die Verlagsbindung) kostete und sie in die innere Emigration und persönliche Frustration trieb. (Ob nun die Zeit für eine Neubewertung gekommen ist, darf bezweifelt werden, allein die Aufführungszahlen sind niederschmetternd).
Eher unterrepräsentiert in diesem Buch, wie insgesamt in den Wittener Programmen, sind amerikanische und asiatische Komponisten (Südamerika und Lateinamerika fehlen ganz), doch auf die Ikonen der US-amerikanischen Avantgarde wollten und durften die Herausgeber natürlich nicht verzichten: Den beiden Hauptrepräsentanten der New York School, John Cage und Morton Feldman war in den 1980er Jahren eine fast kultisch anmutende Renaissance beschieden – und in beiden Fällen wurden ein neuer Feldman wie auch ein neuer Cage wahrgenommen. 1982 stand das Wittener Festival ganz im Zeichen von John Cage; als Höhepunkt von Morton Feldmans Durchsetzung gelten die europäischen Konzerte in Darmstadt und Middelburg kurz vor seinem Tod 1987, die Wittener Aufführungen indes erfolgten erst posthum.
Den Gegenpol bildete der Blick nach Osten: die polnischen, auch ungarischen Komponisten waren zwar im Westen anerkannt und etliche lebten und arbeiteten in Westdeutschland, doch von der Musik der Sowjetunion ahnte man kaum, ob jenseits angepasster Auftragsarbeiten auch anders komponiert wurde (abgesehen von den im Westen bekannt gewordenen Leuchttürmen). Wie groß aber war die Überraschung, als nach dem Zerfall der Sowjetunion der Blick in eine ungemein vielfältige, allen Doktrinen sich verweigernde Musiklandschaft frei wurde. Ein Höhepunkt in Witten war gewiss die Aufführung der schon 1970-1975 entstandenen Komposition I-III der Schostakowitsch-Schülerin Galina Ustwolskaja im Jahr 1993. Diese granitene, in alttestamentarischer Wucht sich entäußernde Musik passte so gar nicht in das Bild willfähriger Auftragskomponisten.
Überhaupt waren es gelegentliche Wiederaufführungen bzw. verspätete Erstaufführungen von Werken, die besonders im Gedächtnis der Wittener Tage haften geblieben sind. Zu nennen wäre hier die 1995 stattgefundene epochale deutsche Erstaufführung der großen Kantate Au delà du hasard für vier Instrumentalgruppen und eine Vokalgruppe aus dem Jahr 1959 des früh verstorbenen Komponisten Jean Barraqué.
Abgesehen von den wenigen Aufführungen älterer Werke werden in diesem Buch zumeist Uraufführungen besprochen, so dass sich das Buch wie eine Musikgeschichte der vergangenen fünfzig Jahre liest. Interessant, wie bei fortlaufender Lektüre Schwerpunkte erkennbar werden: In den frühen bis mittleren 1970er Jahren steht die Auseinandersetzung mit politischen und gesellschaftlichen Themen im Vordergrund (stellvertretend seien Luca Lombardi oder Nicolaus A. Huber genannt), etwa parallel zur Abkehr vom Serialismus und der Hinwendung zu einer Restitution vormoderner Sprach- und Stilmittel und klassischer Gattungsmodelle wie der Sinfonie oder dem Klavierlied (etwa bei Wilhelm Killmayer). In den darauffolgenden Jahrzehnten liegt der Fokus mal auf der Ausdifferenzierung und Verabsolutierung des Klangs (Gérard Grisey), der Entwicklung neuer oder neu entdeckter Tonsysteme (Klaus Huber) oder Aspekten des Performativen (Carola Bauckholt und Matthias Kaul).
Alle Beiträge finden auf einer Doppelseite Platz, hinzu kommen Werk- und Aufführungsdaten. In den ältesten Werkbeschreibungen aus den Anfangstagen der Ära Brennecke überwiegen gelegentlich die biografischen Hinweise, denn etliche der Komponisten, die seinerzeit regelmäßig aufgeführt wurden, wie etwa der gleich zu Beginn des Buches behandelte Günther Becker, sind heute der Vergessenheit anheimgefallen. Sich mit den Komponisten und den hier besprochenen Werken erneut zu befassen und sie aufzuführen, das ist eine der vornehmsten Aufgaben dieses Buches. Dass der Blick in die Vergangenheit erst mit historischem Abstand normative, benennbare Ordnungskriterien ausbildet, belegen Auszüge aus Rezensionen, die in etliche Beiträge des Buches eingearbeitet wurden. Die Zeitgebundenheit einer Rezension, so zeigt es sich, resultiert aus der Schwierigkeit, etwas zu einer Musik aussagen zu müssen, bevor diese in ihre eigene Rezeptionsgeschichte eintritt. Umso mehr man sich beim Lesen des Buches den aktuellen Entwicklungen der Musik nähert, desto überzeugender, quasi „objektiver“ lesen sich die Auszüge der Tageskritik (in der Rückschau bleibt von der „Objektivität“ freilich wenig übrig). Und, was die Lektüre etlicher Beiträge noch zeigt, ein Paradigmen- oder Stilwechsel, überhaupt das Unvorhergesehene, entzieht auch dem unvoreingenommenen zeitgenössischen Beobachter den Boden unter den Füßen. Der Leser, der das Buch von vorne bis hinten durchliest, mag sich fragen, welche heute stichhaltig wirkenden Urteile in 50 Jahren noch werden bestehen können. Erstaunlich aber doch, wie viele der hier vorgestellten Werke bereits heute zu Klassikern der neuen Musik aufgestiegen sind.
Für das ansprechend und schön aufgemachte Buch haben die Herausgeber renommierte Autoren gefunden, deren Beiträge durchgehend dem an aktueller Musik interessierten Leser ein Lesevergnügen bereiten und die gelegentlich, wenn die Autoren dem Festival als Macher nahestehen wie etwa Harry Vogt, mit Interna aufwarten können. Etliche Werkbesprechungen machen Lust auf die Wiederbegegnung mit der vorgestellten Musik, und wenn nun der Musikfreund oder Musiker, der Konzertveranstalter oder Produzent auch nur einem dieser Werke zu einer klingenden Wiederbegegnung verhilft, hat das Buch seinen Zweck erfüllt.
Rüdiger Albrecht
Berlin, 26.07.2019