Kammermusik der Gegenwart. Essays / Hrsg. von Frank Hilberg und Harry Vogt [Rüdiger Albrecht]

Kammermusik der Gegenwart. Essays / Hrsg. von Frank Hilberg und Harry Vogt. – Hofheim: Wolke, 2018. – 304 S.: 32 Fotos
ISBN 978-3-95593-086-8 : € 29,00 (geb.)

Wohl jeder Kammermusikliebhaber hat Vergleichbares so oder ähnlich schon einmal erlebt: An dem einen Tag der Auftritt eines jungen Ensembles in einer Galerie (oder einem anderen Ort mit vergleichbar intimer Atmosphäre). Das Publikum ist den Musikern ganz nah, es findet eine unmittelbare Kommunikation statt. Man spürt, die Musik entsteht im Moment, sie berührt. Einige Tage oder Wochen danach ein Konzert eines altehrwürdigen Ensembles. Im großen Saal der Philharmonie, weit entfernt von der Bühne sitzend, sieht man von den Musikern nur die Rücken, zu hören ist eine flaue undifferenzierte Klangfolie, die Musik könnte auch von einer gleichzeitig abgespielten CD stammen. Das Publikum feiert die alten Herren, beglückt, sie noch einmal erlebt zu haben, um die Musik geht es nur am Rande.
Werke der Kammermusik hörten wir an beiden Abenden, aber war es beide Male „Kammer“-Musik? Wie ließe sich der Begriff jenseits musikalischer Gattungsfragen konkretisieren? Lässt sich Kammermusik nur über die Besetzung definieren? Welche Rolle spielt der soziale Aspekt des intimen Musizierens, das Bündnis zwischen dem Publikum und den Musikern, welche Bedeutung kommt der Wahrnehmung zu, nicht nur der rein akustischen? Fest steht, dass in jedem musikalischen Soziotop eigene Spielregeln gelten: Der Opernfreak, der von Premiere zu Premiere reist, süchtig nach neuen Stimmen; das philharmonische Publikum, das im Gemeinschaftserlebnis einer Mahlersinfonie aufgeht; der Pianist, der sich wie ein Autist in den Trillerlandschaften der Arietta von Beethovens Opus 111 verliert, kaum wahrnehmend, wie er sein Publikum in den Bann zieht.
Zu einem erweiterten Begriff von Kammermusik, vornehmlich der gegenwärtigen, sollten außer formalen Kriterien, insbesondere des Notentextes, noch andere Komponenten berücksichtigt werden. Eindeutige Definitionen müssen an solchen Vorgaben zwangsläufig scheitern, auch die Musikwissenschaft kann und will die Randbezirke nicht exakt abstecken.
Gerade um ebensolche Randbezirke aber geht es in den Essays, die für dieses Buch ausgewählt und zusammengestellt wurden. Die beiden Herausgeber, Harry Vogt und Frank Hilberg, beide als Redakteure für neue Musik beim WDR in Köln tätig, werteten die Programmbücher des Kammermusikfestivals in Witten, der „Wittener Tage für neue Kammermusik“ aus und stellten 44 Essays unter mehreren thematischen Schwerpunkten zusammen. Weitere fünf Essays entnahmen sie Programmheften zu Konzerten des WDR, sechs Essays wurden neu in Auftrag gegeben. Die insgesamt 55 Essays von 43 Autoren gruppierten sie in 19 Kapiteln zu jeweils einem Thema. Das Buch ergänzt vortrefflich den 2009 von denselben Herausgebern gleichfalls im Wolke-Verlag erschienenen Band “Kammerton der Gegenwart”, der die Geschichte des Festivals seit den Anfängen mitten im „Dritten Reich“ resümiert. (Die „Wittener Tage für neue Kammermusik“ hatten einen Vorläufer in den von Robert Ruthenfranz 1936 gegründeten „Wittener Kammermusiktagen“. Unter zeitgenössischer Musik verstand dieser – zeitbedingt – leicht zugängliche Werke zwischen Volksliedkantate und Spielmusik; der Jahrgang 1944 stand gar unter dem Motto “Komponisten im Waffenrock“. Moderne Musik, auch neue Musik der ersten Jahrhunderthälfte, taucht erst in den Programmen ab 1964 auf. Erst im Jahre 1969, als Wilfried Brennecke die Leitung übernahm, erhielten die „Tage“ ihr heutiges Profil). Die Publikationsidee, einzelne Beiträge aus Programmheften oder -büchern neu zusammengestellt wieder zu veröffentlichen, bietet sich an, um die bald nach den Konzerten kaum mehr zugänglichen Aufsätze interessierten Lesern zur Verfügung zu stellen, aber, vielleicht noch wichtiger: Sie eröffnet Querbezüge, Widersprüche und Perspektiven, die nicht selten erst in der Kompilation sichtbar werden.
Die beiden Herausgeber, Harry Vogt, seit 1990 künstlerischer Leiter des Festivals, und Frank Hilberg, der mit ihm zusammen die Programmbücher redaktionell betreut, konnten, wie die Auswahl zeigt, renommierte Autoren gewinnen. Neben einigen Musikern und Komponisten sind dies in erster Linie Musikschriftsteller, Musikjournalisten und Rundfunkredakteure; Musikwissenschaftler aus dem akademischen Umfeld von Forschung und Lehre fehlen indes. Die Palette reicht von Peter Niklas Wilson, der mit vier Beiträgen vertreten ist, über Konrad Boehmer, Hans-Klaus Jungheinrich, Ulrich Dibelius, Michel Butor und Ulrich Schreiber bis hin zu Max Nyffeler, Jürg Stenzl und Peter Gülke, um nur die bekanntesten zu erwähnen.
Die 19 Kapitel gehören zu jeweils einem von drei Themenblöcken. Zwei Kapitel des einführenden, ersten Themenblocks sind mit „Kammer-Phantasien“ überschrieben. In deren insgesamt fünf Beiträgen geht es den Autoren darum, sich dem Begriff des Kammermusikalischen, aber auch einer Gattungsdefinition zu nähern. Essenzielle Charakteristika kammermusikalischen Komponierens, das Intime sowie der Gegensatz von Freiheit und Verantwortung werden im zweiten Block der „Kammer-Phantasien“ abgehandelt. Hans-Klaus Jungheinrich zeigt, wie sich die beiden antithetischen Kategorien in der Kammermusik nach 1950 einander bedingen: Zum einen die Verantwortung des Musikers gegenüber dem „„Reinheitsgebot“ des vierstimmigen Satzes“ (S. 104), zum andern die Möglichkeit, in John Cages Variations eine Freiheit jenseits von Komposition und Improvisation, gar deren Negation, utopisch einzulösen. „Die rigoros anarchistischen Werke von Cage (Atlas Eclipticalis, Variations) können ganz adäquat vielleicht nur von Engeln gehört werden“, mutmaßt Jungheinrich (S. 103). Zweifellos waren es Werke wie die genannten, die den Begriff von Musik aber auch die Gattungsgrenzen der Kammermusik nach 1950 weit geöffnet haben.
Sieben Kapitel widmen sich den titelgebenden Gattungen: vom Klaviersolo (das doch wohl mehr eine eigene Gattung bildet), über Duos, Trios, Quartette, dem Oktett bis zum Kammerorchester (welches wiederum außerhalb der Kammermusik angesiedelt ist). Kaum verwunderlich, dass dem Streichquartett (der Königsdisziplin der traditionellen Kammermusik) mit einem Portrait des Arditti-Quartetts gehuldigt wird. Leider bleiben die Blas- und Schlaginstrumente unberücksichtigt. Aber, was noch mehr verwundert: Die Abgrenzung zur Ensemblemusik, die mit Schönbergs Pierrot lunaire und der Kammersymphonie op. 9 eine eigene Gattung im 20. Jahrhundert ausprägte und zu etlichen Ensemblegründungen (Ensemble modern, London Sinfonietta, Ensemble Intercontemporain) führte, wird kaum je thematisiert, höchstens gestreift! Alle weiteren Gattungsbeiträge – diverse vokale Besetzungen vom Madrigal bis zum Instrumentalen Theater – bewegen sich am Rande oder, je nach Definition, jenseits des Randes der Kammermusik.
Der dritte große Themenblock ist zehn sehr unterschiedlichen Themenfeldern vorbehalten: Dem Lauschen und Hören der Stille, dem Komponieren von Kammermusik, kompositorischen Aspekten wie der Verwendung von Mikrointervallen, der Bedeutung der Notenschrift versus Improvisation (Kammerjazz!) sowie dem Verhältnis von Melodie/Linie zu Polyphonie und zu musikalischer Zeit. Die Frage, ob Kammermusik dirigiert werden solle, wird von den zwei Autoren, die sich des Themas annahmen, gegensätzlich beurteilt: Für Hans-Klaus Jungheinrich überwiegt eher die Skepsis, Frank Schneider möchte den Dirigenten in Einzelfällen nicht missen.
Gelegentlich treibt die Lust an spritzigen Formulierungen seltsame Blüten; schön zu lesen ist dies allemal. Eher problematisch ist der gelegentliche Einsatz griffiger Sprachbilder, der auch mal zu widersprüchlichen Ergebnissen führen kann. So etwa, wenn Konrad Boehmer in für ihn typischer Art pointiert: „Die Beatles sind Kammermusik, die Rolling Stones nicht“ (S. 30) und Kornelia Bittmann in ihrem Portrait des Arditti-Quartetts den einstigen zweiten Geiger des Quartetts, David Alberman, zu Wort kommen lässt: „Wir waren eher die Rolling Stones als die Comedian Harmonists“ (S. 133). Typisch für derartige Bonmots, so nett sie auch sind, dass sie zugleich wahr wie falsch, im Grunde also entbehrlich sind.
Das flüssig zu lesende und zum Schmökern einladende Buch, das neben den Abdruckhinweisen und den Fotonachweisen über ein nützliches Register verfügt, ist durch die Schwarzweiß-Fotos von Claus Langer (und 2 Fotos von Erdmute Blitz) wunderbar bereichert: jedes Kapitel wird mit einem thematisch passenden Foto eingeleitet und gelegentlich auch abgerundet.
Inhalt

Rüdiger Albrecht
Berlin, 13.08.2018

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