Gruber, Sabine M.: 111 Orte der Musik in Wien, die man erlebt haben muss – Köln: Emons, 2018. – 240 S.: farb. Abb.
ISBN 978-3-99050-096-5: € 16,95 (brosch.)
Was sollte man unbedingt gesehen, getan, gegessen etc. haben, ehe der Weg alles Irdischen beschritten werden muss und es dementsprechend irgendwann signifikant an Gelegenheiten mangelt, Versäumtes nachzuholen? Das Erstellen sogenannter „Bucket Lists“, die irgendwo zwischen barock anmutendem Vanitas-Denken und zeitgenössischem Hedonismus oszillieren, dazu gedacht, die Mitsterblichen vor derlei nicht mehr widergutzumachenden Fehlern zu bewahren, liegt inzwischen bereits seit einigen Jahren im Trend. Nun legt der Emons-Verlag den neuesten Band seiner hauseigenen populären 111 Orte-Themenreihe vor, welche den traditionellen Informationsanspruch eines Reiseführers mit der emotionalen Komponente solcher Bucket Lists verbindet. In bewährter Form steht für jedes der grob alphabetisch geordneten Kapitel je eine Doppelseite mit Farbabbildung zur Verfügung, inklusive relevanter Informationen zu Adresse, Anfahrt, Öffnungszeiten und kleinen zusätzlichen Tipps oder Hinweisen. Als Autorin wurde dafür die einschlägig versierte Sabine M. Gruber gewonnen, von der mit Sachkenntnis, Leidenschaft und dem erforderlichen Selbstvertrauen diesmal 111 Orte der Musik in Wien, die man erlebt haben muss präsentiert werden.
Tatsächlich ist dieser Titel allerdings etwas irreführend: Wer erwartet, durch den Erwerb des Buches optimal gerüstet sich auf eine Entdeckungsreise musikalischer Topographie der österreichischen Hauptstadt begeben zu können, wird feststellen, dass keineswegs alle Ziele fußläufig oder mittels Stadtverkehr erreichbar sind.
Vorgestellt werden ergänzend etliche Sehenswürdigkeiten, die zu besuchen es ein gerüttelt Maß an Mobilität erfordert, denn, wie die Autorin richtigerweise feststellt: „Die Musik hört nämlich nicht an der Stadtgrenze auf“ (Vorwort). Aus diesem Grund wählte sie zusätzlich Ziele, an die man per PKW innerhalb rund einer Stunde Fahrzeit gelangen kann. Vorgeschlagen werden unter anderem Trips ins Lisztzentrum nach Raiding, nach Krems und, da auf Joseph Haydns langjährige Wirkungsstätte in einem solchen Werk aus naheliegenden Gründen nicht verzichtet werden kann, sogar nach Eisenstadt. Zwar ist der Weg auch dorthin (nach heutigen Maßstäben) tatsächlich nicht übermäßig weit – es sei allerdings zur Diskussion gestellt, ob die burgenländische Landeshauptstadt unter der vagen geographischen Angabe des „Umland[s] von Wien“ (Ebd.) angemessen verortet ist.
Nicht nur die großen männlichen Heroen der „Klassischen Musik“ Haydn, Mozart und Beethoven, flankiert von Ignaz Pleyel, Franz Schubert, Franz Liszt, Arnold Schönberg und Co. finden ihren Platz in Sabine M. Grubers Auswahl, sondern auch die einer breiteren Öffentlichkeit noch immer wenig bekannten Komponistinnen Marianna Martines („Die Beletage der Martines“, Kap. 41, S. 90) und Maria Theresia Paradis („Das Schloss Loosdorf“, Kap. 20, S. 48) sowie die Violinistin Alma Rosé, eine Nichte Gustav Mahlers, die unter bis heute nicht vollständig geklärten Umständen in Auschwitz zu Tode kam, wo ihr nach ihrer Deportation die Leitung der Frauenlagerkapelle zufiel („Der Gedenkstein für Alma Rosé“, Kap. 56, S. 120).
Potentielle musikalisch interessierte Entdeckungsreisende werden durch die zahlreiche Genres umfassende, vielfältige Auswahl an Ausflugzielen wohl nicht enttäuscht werden. Je nach persönlicher Vorliebe wird hier so gut wie jede(r) fündig: Ob E-Musik, Operette, Jazz („Das Jazzland“, Kap. 62, S. 132; „Die Fatty-George-Gasse“, Kap. 50, S. 108) oder verschiedene Sparten der Popularmusik – selbstverständlich nicht ohne Falco („Das Falco-Denkmal“, Kap. 8, S. 24)! – alles hat hier gleichermaßen seinen Platz und seine Berechtigung. Architektonische Besonderheiten und Relikte als Orte kulturellen Handelns mit starkem Bezug zur musikalischen Vergangenheit und Gegenwart finden sich auch abseits der obligatorischen Schlösser und Klöster unter Grubers „Orten“ (vgl. etwa „Der Himmelkeller“, Kap. 19, S. 46, „Der Annahof“, Kap. 37, S. 82). Selbst, wer sich schlicht praktische Hinweise zu Gastronomie und Wiener Nachtleben erhofft, stößt mit hoher Wahrscheinlichkeit auf die passende Inspiration (z.B. „Das Brezl Gwölb“, Kap. 45, S. 98; „Der Tunnel“, Kap. 97 S. 202 oder – ebenfalls unumgänglich – „Der Volksgarten-Pavillon“, Kap. 98, S. 204). Und falls jemand tagsüber ein persönliches musikalisches Souvenir mit angesagtem Vintage-Flair sucht, weiß die Autorin ebenfalls Rat: Warum nicht in einer Jugendstil-Aufzugskabine eine eigene Single aufnehmen? („Das Supersense“, Kap. 93, S. 194) – Lang ließe sich die Liste fortsetzen.
Vor die Aufgabe gestellt, eine Selektion von 111 Orten der Musik in den Gebieten von Wien, Niederösterreich und dem Burgenland zu erstellen, erweist sich eine überwiegend subjektive Herangehensweise wohl als unumgänglich. Ob man den eigenen Seelenfrieden beispielsweise nur wahren kann, wenn man weiß, wo in Krems „Mozarts Großmutter wohnte“, muss letztlich jede(r) für sich selbst entscheiden („Frau Pertls Geburtshaus“, Kap. 17, S. 42). Insofern bleibt das latente Gefühl erhalten, dass etwas Wichtiges fehlt. Und genauso ist es natürlich zwangsläufig – ebenso innerhalb der einzelnen Abschnitte, die, bedingt durch das Format, nur kurze Einblicke gewähren können, keinesfalls aber detaillierte Informationen und Hintergründe. Dies ist jedoch im vorliegenden Kontext auch nicht nötig, zumal die Lektüre angenehm und informativ gestaltet ist. Jeder Anspruch auf Vollständigkeit oder gar Perfektion, das lehrt uns das Leben früh, bleibt notwendigerweise unerfüllbar. Da hilft auch keine Bucket List. Musikinteressierte Wientouristen werden in der vorliegenden Publikation dennoch eine willkommene Ergänzung des Pflichtprogramms finden, und Insider und Einheimische vielleicht neue, bislang noch unbekannte Wege beschreiten und ihre „Musikstadt“ ein bisschen neu entdecken.
Michaela Krucsay
Leoben, 25.08.2018