Grünzweig, Werner: Artur Schnabel. Musiker und Pianist – Berlin: Hentrich & Hentrich, 2017. – 76 S.: Abb. (Jüdische Miniaturen ; 205)
ISBN 978-3-95565-199-2 : € 8,90 (kt.)
Ein halbes Jahrhundert Musik. Der Briefwechsel Artur Schnabel und Therese Behr-Schnabel 1900‑1951 / Ausgew. und hrsg. von Britta Matterne und Ann Schnabel Mottier – 3 Bde. – Hofheim: wolke, 2016 – 2.067 S.: Abb.
ISBN 978-3-95593- 102-5 : € 89,00 (geb. im Schuber)
Ja, ist denn ein Pianist kein Musiker, könnte man fragen.
Aber tatsächlich hat das emphatisch Musikalische, das sich in jeder Faser des Künstlers Schnabel auslebte, ihn über das Rein- oder Bloß-Pianistische, -Klavieristische hinausgehoben und seine Spielweise, die von Reinheitsgeboten des Klaviertechnischen her gesehen manchmal als fragwürdig erscheinen könnte, musikalisch rehabilitiert: mit einer fast nüchtern zu nennenden Darstellung des inneren Ausdrucksgehalts von Musik. Diese delikaten Fragen kann man sich auch heute noch an den zahlreichen Einspielungen Schnabels mit Schubert- und Beethoven-Sonaten anhören. Außerdem war Schnabel Komponist, und es gab Phasen in seinem Leben, in denen er seine pianistischen Konzertverpflichtungen am liebsten an den Nagel gehängt hätte, um nur noch komponieren zu können. Die Spannungen zwischen diesen drei Polen, dem Pianistischen, dem Musikalischen und dem Kompositorischen ausgetragen zu haben, war das Besondere im Leben Schnabels, es als die treibenden Kräfte seiner Entwicklung und Laufbahn beschrieben zu haben, ist der große Vorzug der kleinen Monografie, die Werner Grünzweig im Rahmen der Jüdischen Miniaturen des Hentrich-Verlags über diese Ausnahmeerscheinung in der europäisch-amerikanischen Musikwelt der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts vorgelegt hat.
Wie sehr Schnabel von Musik als einer eigenständigen Größe geradezu besessen war, zeigt Grünzweig, indem er die pointierten Meinungen des Musikers Schnabel über seine Leidenschaft für Musik gesammelt hat und komprimiert zum Besten gibt, z. B. die Ansicht, dass auch Lieder absolute Musik seien, denn die Sprache sei nur da, damit der singende Mensch etwas habe, das er singen könne. Das ist ungefähr der genaue Gegensatz zur Ansicht von Romantikern wie Carl Loewe, der meinte, die Musik sei nur um der Sprache willen da. Nicht nur auf musikalischem, auch auf gesellschaftlich-politischem Gebiet hatte Schnabel entschiedene Ansichten. Ausgehend von einem traditionell elitären oder großbürgerlich-aristokratischen Verständnis von Tonkunst als Teil einer hochkulturellen Veranstaltung lernte er im Rahmen der Weimarer Republik etwas über die notwendige Demokratisierung der Künste und spielte seine Beethoven-Zyklen nicht etwa in der Philharmonie, sondern in der Volksbühne. In Amerika, dem schließlichen Zufluchtsort vor der sich in Europa ausbreitenden faschistischen Pest, litt er unter der kapitalistischen Kommerzialisierung auch der von ihm traditionell als unantastbar gehaltenen ernsten Musik, aber er blieb auch immun gegenüber Verheißungen totaler Sozialisierung der Künste: Nüchternheit, Klarsicht, Scharfsinn auch hier.
Was Schnabel für das Klavierwerk von Komponisten wie Franz Schubert, Ludwig van Beethoven und Johannes Brahms, aber auch für die modernen Zeitgenossen wie Arnold Schönberg, Ernst Krenek und Eduard Erdmann getan hat, ist für uns Heutige kaum noch vorstellbar, allenfalls noch dadurch nachvollziehbar, dass man sich die Unmenge seiner Schüler(innen) vor Augen führt, die er (wie auch seine Frau) in Italien und den USA hatte, die aus aller Welt in seine Meisterkurse strömten und von dort aus seine Art der Musikalität und der musikalischen Schulung wieder in die Welt trugen. Denn zu all seinen Tugenden kam noch der pädagogische Eros hinzu. Und sein Witz nicht zu vergessen, sein Sinn für die möglichen Kapriolen der Sprache als einer ebenso autonomen Kunst. Eines der schönstens Beispiele ist der Umgang mit seinem Vornamen. Er legte auf das fehlende H in ihm großen Wert, denn er sei keine Art-Hur.
Werner Grünzweig sitzt im Archiv der Berliner Akademie der Künste an der Quelle und hat schon viel über Schnabel publiziert in jenem Verlag namens wolke, der nun seine Schnabel-Serie krönt mit einer dreibändigen, auf das Sorgfältigste edierten Ausgabe des Briefwechsels zwischen den Eheleuten Schnabel, den Grünzweig verwaltet. Artur Schnabel war mit einer großen Künstlerin verheiratet, die er schon früh auf Konzertreisen entdeckt und nie mehr losgelassen hat, der Altistin Therese Behr, verheiratete Schnabel.
Nur gut, dass das Ehepaar Schnabel des Öfteren und Längeren – meist verursacht durch Gastspiele, aber auch durch die Umstände der Emigration – getrennt lebte und sich was zu erzählen hatte, denn so entstehen allmählich beim Lesen in diesem Briefwechsel sowohl ein regelrechtes Panorama als auch ein Detail-Einblick in das deutsche, das europäische und schließlich das transatlantische Musikleben und die politischen Katastrophen des Jahrhunderts. Diese Briefe waren einmal in einer italienischen Villa eingemauert, um sie vor den Klauen der faschistischen Räuber zu sichern.
Das etwas bildungsbürgerlich-elitäre Flair, das die beiden entsprechend sozialisierten Künstler um sich verbreiten, verleitet sie nicht selten zu verächtlich-abschätzigen, kunstrichterlichen Urteilen, über alles, was in die Richtung leichter Musik geht, die ja bekanntlich, wenn sie wirklich gut sein soll, besonders schwer zu machen ist. Aber ihre Aufgeschlossenheit gegenüber der Avantgarde, ihre Beteiligung an deren Produktion durch authentische Wiedergabe ist enorm viel wert gewesen in einer Zeit, in der Leute vom Format eines Schönberg händeringend nach geeigneten Interpreten suchten. Schönbergs Uraufführung seines Pierrot lunaire dürfte dann auch für Schnabel wie für viele andere seinesgleichen eine Art Initialzündung für eigene Wege im Komponieren gewesen sein. Über das kulturgeschichtlich Interessante und Aufschlussreiche hinaus gewähren die Briefe einen Einblick in private Lebensverhältnisse eines erfolgreichen, aber auch gefährdeten und verfolgten Künstlerpaares, in denen sich die Katastrophen des Zeitalters der Extreme widerspiegeln. Herzlichkeit, Zärtlichkeit, Gewitzheit, Traurigkeit und Verzweiflung, Mut und Überdruss – alles kommt in diesen Briefen vor und zwingt den Leser, sich lange Zeit in die Verwicklungen eines halben Jahrhunderts hineinzuversetzen, und zwar bei aller präsentierten Geistigkeit nicht etwa aus einer Vogelperspektive, sondern aus einer Teilnahme am Alltäglichen, das allerdings von der Musik als Tonkunst als der alles beherrschenden Macht bestimmt war.
Die Herausgeberin Britta Matterne gibt in ihrer Einleitung nicht nur eine fast urteilsfreie und die musikalisch-ästhetischen Fragen kaum berührende nüchterne Darstellung der äußerlichen Lebenswege beider Künstler in ihren jeweiligen Eigenheiten und ihren Gemeinsamkeiten in ihren Konzertauftritten mit hoher Liedkunst. Die genau abgelegte Rechenschaft über die philologisch-biografische Arbeit an dieser Edition, über ihre Prinzipien und Methoden, lässt eine mit akribischer Sorgfalt hergestellte Auswahl und Kommentierung der Briefe erwarten, und man wird beim Lesen (mit stets zwei Bänden gleichzeitig beschäftigt) nicht enttäuscht. Ein ganzer dritter Band (Anhang) mit über 500 Seiten, mit dem eigentlichen Anmerkungsteil zu jedem einzelnen Brief von ca. 250 Seiten sowie weiteren Verzeichnissen (Zeittafel, Briefverzeichnis, Kurzbiografien, Bibliografie, Abbildungsverzeichnis, Werk-, Namen- und Sachregister) lässt kaum Wünsche offen. Seltsam berührt – abgesehen von nicht originellen, sondern übernommenen Fehlschreibungen von Werktiteln, wie z.B. „Frauenliebe und -leben“, statt „Frauenliebe und Leben“ (S. 30) ‑ lediglich die Tatsache, dass zwar glaubhaft mitgeteilt wird, dass die „Kurzbiographien […] in monatelanger und teils mühsamer ‚archäologischer Grabungsarbeit‘ entstanden“ (S. 58) seien, sie aber dann doch größtenteils aus dem online-Lexikon Wikipedia und anderer Lexika kompiliert erscheinen und als solches auch ausgewiesen sind. Nicht, dass man Wikipedia nicht heranziehen und zitieren dürfte, aber dazu sind die Qualitätsschwankungen in diesem Lexikon wohl doch zu groß, um hier von einer zuverlässigen Quelle sprechen zu können, zumal sie in vielen Fällen als einzige ausgewiesen ist.
Beide Publikationen enthalten großzügig verstreut eine große Menge fotografischen Materials, mit dessen Betrachtung man der familiären und öffentlichen Präsentation aller beteiligten Protagonisten und der Atmosphäre ihrer Lebenszeit näher kommt. Nimmt man beide Publikationen zusammen ‑ die Miniatur nicht nur als biografischen Überblick, sondern als unbestechlichen ästhetischen Urteilskompass sowie die Briefsammlung mit ihrer die äußerlichen Lebenswege schildernden Einführung und dem riesigen Fundus an authentischen Informationen und Erzählungen im Originalton der beiden Künstlernaturen ‑, so hält man eine Fülle von vergangenen Augenblicken und epochalen Einblicken in Händen, die alle Investitionen an Zeit und Geld mehrfach belohnen.
Peter Sühring
Bornheim, 24.09.2018