Yuki Melchert: Gabriele Wietrowetz. Ein weiblicher Joachim? Ein Beitrag zur Künstlerinnensozialgeschichte zu Beginn des 20. Jahrhunderts. – Hildesheim [u.a.]: Georg Olms, 2018. – 472 S.: s/w-Abb. (Studien und Materialien zur Musikwissenschaft ; 101)
ISBN 978-3-187-15680-4: € 88,00 (geb.)
Der Name der Geigerin Gabriele Wietrowetz, die den größten Teil ihres Lebens in Berlin lebte, ist heute selbst in Fachkreisen unbekannt. Dabei kann sie auf eine 40jährige Karriere als Konzertgeigerin und Kammermusikerin verweisen und war eine der ersten Frauen, die an der Königlichen akademischen Hochschule für Musik zu Berlin als „außerordentliche Lehrerin“ Geige lehrte. Ihre Ausbildung erhielt sie dort bei Joseph Joachim und gewann schon während ihres Studiums zwei Mal den ersten Preis des Felix Mendelssohn Wettbewerbes. Nach ihrem Studium gab sie nicht nur in Deutschland sondern in ganz Europa, vor allem in England, zahlreiche Konzerte. Darüber hinaus war sie als eine sehr geschätzte Kammermusikerin bekannt. 1905 gründete sie ein Damenstreichquartett, das sich internationalen Ruhm erwarb und bis 1917 bestand. Während sie zu Lebzeiten noch oft in Lexikonartikeln genannt wurde, findet man ihren Namen in heutigen Nachschlagewerken nur noch selten.
Die Musikwissenschaftlerin Yoki Melchert stellt in ihrer Dissertation das Leben und Wirken der Geigerin dar und bringt sie somit wieder ins kulturelle Gedächtnis zurück. Der Titel „Gabriele Wietrowetz. Ein weiblicher Joachim“ weist auf die Spielweise der Geigerin hin, die oft mit der von Joseph Joachim verglichen wurde. „Sie wahrt die Tradition eines vergeistigten Spiels im Sinne ihres Meisters, die nervige, straffe Bogenführung und den großen Zug der Darstellung.“ (S. 163) Nach seinem Tod galt sie als die „Bewahrerin der Joachim’schen Violintradition“ (S. 109). Diese Bezeichnung erhielt sie nicht nur für ihre solistischen Interpretationen sondern auch aufgrund ihrer kammermusikalischen Tätigkeiten, die sie ebenfalls im Sinne der Ästhetik des Geigers vornahm. Wie er richtete sie ihr Augenmerk nicht nur auf eine Solistenkarriere, sondern auch auf das Zusammenspiel im Quartett. So setzte sie ebenfalls in der Lehre die Tradition ihres Lehrers fort.
Yoki Melchert geht in ihrem Buch nach rein wissenschaftlichen Kriterien vor. In der Einleitung wird der bestehende „Stand der Forschung“ beschrieben. Für ihre Arbeit hat die Autorin umfangreiches Quellenmaterial zusammen getragen und gesichtet. Neben Nachlässen von Musiker*innen, Nachlassakten, Hochschulakten etc. findet man unter den recherchierten Quellen Gesetzestexte und Akten des Stadtarchivs Graz, um nur einige zu nennen. Besondere Bedeutung kommt den Tagebüchern von Esther Bright zu. Sie war Freundin, Unterstützerin und Agentin der Geigerin und schildert in ihren Memoiren ausführliche gemeinsame Unternehmungen, die einen Einblick auf das Privatleben der Geigerin geben.
Der Aufbau des Buches orientiert sich an den Tätigkeitsgebieten der Geigerin und ist in vier Kapitel aufgeteilt. Das erste Kapitel behandelt ihre persönliche Situation, die durch die Krankheit ihrer Eltern nicht immer einfach für die Geigerin war. Als unverheiratete Frau und Einzelkind war sie nicht nur für ihren Unterhalt verantwortlich, sondern auch für den ihrer Eltern. Obwohl Gabriele Wietrowetz in ärmlichen Verhältnissen aufgewachsen war und Geldnöte in ihrem Leben von Zeit zu Zeit eine größere Rolle spielten, hinterließ sie nach ihrem Tod ein größeres Vermögen. Neben biographischen Fakten werden auch stets geschlechtsspezifische Aspekte und Besonderheiten mit betrachtet.
Im zweiten Kapitel stehen ihre sowohl solistischen als auch kammermusikalischen Konzerttätigkeiten im Fokus. Das dritte Kapitel ist ihrer Tätigkeit als Lehrerin sowohl an der Hochschule als auch im privaten Bereich gewidmet. Ein weiteres Kapitel beschreibt die sozialen Beziehungen der Geigerin. Hier sind ihre Kontakte zu hochkarätigen Persönlichkeiten des Musikbetriebes und deren Beziehung zu der Geigerin beschrieben: Joseph Joachim als Hauptmentor und Lehrer, Clara Schumann als Mahnerin und Ratgeberin, Esther Bright als ihre Freundin, Unterstützerin und Agentin und die Familie Mendelssohn als Mäzene und Freunde. Dies spiegelt den hohen Stellenwert der Geigerin im Musikleben der Zeit.
Ein umfangreicher Anhang mit allen recherchierbaren Konzert- und Tourneedaten zeigt die Wirkungsweise Gabriele Wietrowetz auf und gibt eine Übersicht zu ihrem Repertoire. Diese Daten bilden die Basis für weitere Forschungen zum Leben und Schaffen der Geigerin und darüber hinaus geben sie einen Einblick in das musikalische Klima jener Zeit. Das Personenregister enthält Kurzbiographien zu wichtigen genannten Personen.
Das Buch beschränkt sich nicht nur auf das Leben und Wirken der Geigerin, sondern vermittelt zahlreiche Informationen zum Leben von Musiker*innen des 20. Jahrhunderts. Die Zusammenfassung der Konzert- und Tourneeorganisation jener Zeit unter Genderblick bildet Grundlage für weitere Forschungen auf diesem Gebiet. Auch die zahlreichen Quellen der Musikhochschule und deren Auswertung geben nicht nur Auskunft über die Lehrtätigkeit von Gabriele Wietrowetz, sondern Melchert schlägt in dem Zusammenhang einen Bogen zur Bedeutung der Hochschule im preußischen Musikleben.
Es ist ein gut lesbares Buch, das das künstlerische Schaffen der Geigerin Gabriele Wietrowetz entsprechend würdigt und darüber hinaus einen umfangreichen Beitrag zur Künstlerinnensozialgeschichte leistet.
Jutta Heise
Hannover, 01.09.2019