Beatrix Borchard: Clara Schumann. Ihr Leben. Eine biographische Montage. 3., überarb. und erw. Aufl. Mit einem Essay der Autorin „Mit Schere und Klebstoff“ ‑ Hildesheim: Olms, 2015. ‑ 431 S.: Abb.
ISBN: 978-3-487-08553-1 : € 28.00 (geb.)
Beatrix Borchards Montage zum Leben von Clara Wieck-Schumann stützt sich in erster Linie auf Primärquellen wie Tagebücher und Briefe, aber auch das Echo in der zeitgenössischen Publizistik wird in grau unterlegt kenntlich gemachten Feldern gebührend berücksichtigt. Seit den beiden früheren Auflagen des Buches sind enorme Fortschritte in der Quellenlage zu den Schumanns eingetreten, was sich teilweise in den Erweiterungen der 3. Auflage auch widerspiegelt (Briefe Claras an Theodor Kirchner, Krankenakte Roberts), über die andernteils aber die Autorin glaubt, leichtfertig hinweg gehen zu können, wie über die neue historisch-kritische Gesamtedition der Briefe der Schumanns. Unter deren Bänden lassen auch noch andere als der 2009 erschienene mit dem gesamten Briefwechsel der Schumanns mit den Mendelssohns (auch über Fannys, Felix‘ und Roberts Tod hinaus) durchaus „neue Befunde“ zu. Berthold Litzmanns dreibändige Clara-Schumann-Biografie von 1902-08 ist zwar wegen anschließend vernichteter Dokumente auch heute noch unentbehrlich, sollte aber da, wo es möglich ist, durch kritische Lesarten ersetzt werden.
Zum ersten Mal hat das Buch jetzt einen Anmerkungsapparat, damit hätte die Monteurin (nach ihrem eigenen, in der Vorbemerkung zur 1. Auflage geäußerten Selbstverständnis) diese Montage auf das Niveau eines „Sachbuchs“ gehoben. Man fragt sich nur, was sie ursprünglich dann gewesen sein sollte: ein belletristisches Buch oder ein Zwitter aus Kunst und Geschichtswissenschaft? Jedenfalls sind fast alle Zitate jetzt erstmals einzeln nachgewiesen und damit überprüfbar geworden ‑ ein für die wissenschaftliche Nutzung und Kritik dieses Buches großer Vorteil. Neu ist auch ein aus anderen Sekundärquellen zusammengestelltes „Repertoire Clara Schumanns“, es tritt an die Stelle der in den früheren Auflagen periodisch eingestreuten, aus Litzmanns Liste des Repertoires und der Studienwerke (letztere nur bis 1831) geschnittenen und faksimilierten Mitteilungen und ist nun nicht mehr chronologisch, sondern alphabetisch nach Komponisten sortiert. Die Studienwerke Claras bis 1831 sind entfallen; Grundlage dieses „Repertoires“ sind, wie schon für Litzmann, die gesammelten damaligen Programmzettel. Man fragt sich nur, ob diese Liste wirklich Einblick in Claras Konzertprogramm-Gestaltung, also ihr Repertoire, geben kann, denn hier ist jeder Unterschied in der Häufigkeit und damit der Schwerpunktsetzung und damit überhaupt erst einer Repertoire-Bildung nivelliert: die vielleicht hundert Mal gespielte Appassionata Beethovens steht hier neben einer vielleicht nur ein einziges Mal aufgeführten anderen Beethoven-Sonate ‑ immerhin kann man dieser Liste entnehmen, welche der 32 Klaviersonaten Beethovens Clara Wieck-Schumann nie öffentlich gespielt hat. Das Design des Buches ist großzügiger und damit lesefreundlicher geworden, die eingeblendeten Stichworte der Autorin fallen nun noch mehr ins sichtbare und intellektuelle Gewicht.
Eine biographische Montage ist noch lange keine „montierte Biographie“, wie die Monteurin zu glauben scheint. Denn das Entscheidende einer Biografie, die historisch-kritischen Gesichtspunkten standhalten will: der erzählende, darstellende, die Geschehnisse in Zusammenhang bringende, reflektierende und interpretierende Autor, fehlt (allerdings nur scheinbar) oder verbirgt sich, gibt aber trotzdem vor, „sichtbar“ zu bleiben. Nur ein literarisches Spiel aus der verflossenen Periode des sich selbst so nennenden Dekonstruktivismus? Das würde eine 3. Auflage anno 2015 kaum rechtfertigen können. Wäre dem aber so, dann hätte dieses Spiel allerdings ein Opfer, nämlich das Objekt der Montage: Clara Schumann und ihr Leben.
Die vorgeblich romantisch‑anarchische, d.h. herrschaftsfreie und diskrete Methode, die die Leser(innen) dazu animieren möchte oder ihnen aufbürdet, während des Lesens zu selbstschreibenden Biograf(inn)en zu werden, bestimmte Erkenntnisse über die vorgestellte Person und die Verhältnisse, in denen sie lebte, selber hervorzubringen, anstatt sie als geleistete Arbeit der Biografin zu konsumieren oder sich mit deren Resultaten kritisch auseinanderzusetzten, ist in Wirklichkeit eine (antibiografische) Illusion. Oder gar eine (Selbst-)Suggestion der Monteurin, die auf eine andere Weise als durch eigene, als solche erkennbar gemachten Stellungnahmen die Leser allein durch die Technik der Kompilation in ihrer Meinungsbildung beeinflusst. Man muss schon sehr viel wissen (manchmal auch besser wissen), um dieser Beeinflussung nicht zu erliegen. Dann könnte man eine solche Montage, wäre sie gut gemacht, als wissenschaftlich fundiertes oder auf Recherche basierendes Kunstwerk von Bruchstücken vielleicht genießen. Diese Genussmöglichkeit ist bei der hier vorliegenden Montage aber nicht gegeben. Zu sehr mischt sich die alles manipulierende Geisterhand der Autorin, die auf diese Weise sichtbar bleiben will, in die Kompilation der Dokumente.
Zum Glück und besseren Verständnis hat die Kompilateurin in einem der 3. Auflage als Nachwort beigegebenen Essay das Selbstverständnis ihrer Technik preisgegeben und erläutert, dass, warum und wie sie mit „Klebstoff und Schere“ operiert hat. Für den von ihr gepflegten Manierismus nennt sie einige Kronzeugen, mit deren philosophisch-philologischer Schützenhilfe sie meint, ihr Vorgehen begründen und verteidigen zu können. Am plausibelsten erscheint ihr Anknüpfen an beschriebene Verfahrensweisen von Barbara Hahn. Darunter gibt es aber auch eine wirklich ganz falsche Berufung, nämlich auf Walter Benjamin, auf sein ganz spezielles Konzept innerhalb einer ganz besonderen, subjektiven und theologischen Spielart des historischen Materialismus, wie er es in den erkenntnistheoretischen Abschnitten seines Passagen-Werkes erläutert hat. Ihm ging es darum, „das Prinzip der Montage in die Geschichte [resp. die Geschichtsschreibung] zu übernehmen. Also die großen Konstruktionen aus kleinsten, scharf und schneidend konfektionierten Baugliedern zu errichten.“ Benjamin ging es um nichts Geringeres als (in einem geschichtsphilosophischen Sinn) „die Konstruktion der Geschichte als solche zu erfassen“, und zwar in Form dialektischer Bilder, in denen alles Lebendige der Vergangenheit unzerstörbar und versöhnt wiederhergestellt wäre. Ein gigantomanisches Projekt, das nur scheitern konnte. Aber er sagte auch: „Ich habe nichts zu sagen. Nur zu zeigen.“ Ob er das, oder besser: sein Prinzip der Montage für übertragbar auf die Biografik, zumal die musikalische, gehalten hätte, darf bezweifelt werden. Außerdem unterscheiden sich Borchards Montageelemente völlig von Benjamins „scharf und schneidend konfektionierten Baugliedern“. Borchard zeigt auch keine aus einer Montage entstehenden dialektischen Konstellationen, sondern sie operiert im Rahmen einer weitgehend chronologischen Abfolge mit direkten und indirekten Zeigefingern: Am meisten irritieren ihre wie Wegmarken oder Wegweiser fungierenden (wie Wagnersche Leitmotive wirkenden) Einschübe in Form von Stichwort-Sammlungen und Hervorhebungen der in den montierten Teilen verborgenen Inhalte: so entsteht eine tendenziöse Lektüre oder eine „Einschreibung“ (um das modische Zauberwort dieser literarischen Strategie zu nennen) in die Leser.
Nicht: „Zeigt, dass ihr zeigt!“ (Brechts Aufforderung an die Schauspieler eines epischen Theaters), ist hier die Devise, sondern: Behaupte, dass du nichts zu zeigen beabsichtigst, und der Leser sich alles selbst zeigen muss, zwinge ihn zum Schreiben derjenigen Biografie in seinem eigenen Kopf, die du zu schreiben ihm verweigerst. Tatsächlich schreibt sich der Leser in diesem Suggestivverfahren genau die Biografie, die ihm die Monteurin, die keine Biografin sein will, durch die Auswahl und die Art der Zusammenstellung ihrer zur Verfügung gestellten Dokumente vorgibt. Das verursacht Unbehagen, „man spürt die Absicht und ist verstimmt“, wie Goethe diesen Effekt beschrieb. Ohne die manieristischen Einschübe wäre es vielleicht ein interessantes Lesebuch, wäre es der selektive Quellenfundus einer ungeschriebenen Biografie, die sich der Leser nun aus den zusammengeschnittenen und zusammengeklebten Fragmenten selbst zusammenbasteln könnte.
Aber: Biografien sollten (müssten sogar) auch immer aktuelle Kommentare zu einer vergegenwärtigten Vergangenheit sein, müsste sich dem Risiko weiterer, eigener, neuer Zuschreibungen aussetzen. Denn bestimmte Dokumente sind ohne Kommentar das genau Gegenteil von dokumentarisch, sondern bloß (pseudo)wissenschaftlich mitgeteilte nackte, nichtssagende Fakten: eine Liste der Einkünfte auf einer Konzertreise in Thalern (S. 196f.) dokumentiert überhaupt nichts, auch wenn sie feinsäuberlich mit Klebstoff und Schere hineinmontiert ist. Um eine Vorstellung von den Dimensionen dieser Zahlen zu bekommen, bedürfte es unbedingt Vergleichszahlen in damaliger Währung und Hinweise auf die Kaufkraft sowie v.a. eine Umrechnung in heutige Währung. Erst dadurch würde dieses Montageelement zu einem biografisch verwertbaren Faktum. Ebenso bei den Reisen: Listen der besuchten Orte, keine primitiven Hinweise darauf und beim Leser keine blasse Ahnung davon, was es damals bedeutete eine Konzertreise zu unternehmen. „Schlag nach bei Kühn!“, kann man da nur sagen. Wie mit dem Geld und den Reiserouten, so mit der Musik: Listen über Listen, ansonsten ‑ außer dokumentierten zeitgenössischen Kritiken – Schweigen über alles, was die besondere Rolle und Bedeutung von Clara Schumanns pianistischem Repertoire sowie ihrer Kompositionen angeht; sie werden zwar statistisch erhoben, aber nichts wird musikästhetisch verdeutlicht, ausdrücklich um „das Wesentliche im Leben einer Musikerin, nämlich Musik, als nicht darstellbare Leerstelle zu markieren“ (S. 430). Ein solches Verfahren richtet sich selbst.
Borchard hätte sich auch auf die 1929-32 von Hannah Arendt geschriebene Biografie einer anderen romantischen Frau, Rahel von Varnhagen, berufen können, einer Keimform dieses Konzepts. Auch dort schon wollte Arendt angeblich nicht mehr zur Darstellung kommen lassen als das, was Rahel selbst über sich wissen konnte, und schrieb eine Biografie mit starker Neigung zu literarischer Collage von Darstellung, Zitat und Kommentar. Man kann aber die Unterschiede und Grenzen zwischen Wissenschaft und Kunst nicht ungestraft verwischen. Gerade im Bereich von Musik ist zwar die Verlockung groß, eine Wissenschaft der Musik als Kunst zu betreiben, um den seelisch-irrationalen Momenten der Musik gerecht zu werden, aber bei der von Borchard angestrebten Symbiose der wissenschaftlichen und zugleich künstlerischen Elemente des Verfahrens der Montage kann eine wünschenswerte Kontrolle über die Anwendung dieses Verfahrens vonseiten der Leser nicht mehr gewährleistet bleiben. Die schleichenden, geraunten Übergänge zu Interpretation und Kommentar bleiben unsichtbar, Interpretation und Kommentar müssten aber stets ausformuliert werden. Interpretation und Kommentar zu verweigern, aber unterschwellig mitzuliefern ist eigentlich ein unredliches Verfahren, öffnet jeder Art von Subjektivismus Tür und Tor und ist das Gegenteil von begründeter Freiheit in Kunst und Wissenschaft.
Auch Lücken kommen vor, die hier nicht alle pedantisch aufgeführt werden sollen. Aber ein Beispiel für mehrere: Gleich zu Beginn, noch zwischen Lebenslauf und Teil 1, wird eines der markantesten Beispiele für die 14-jährige konzertierende Clara Wieck zitiert aus der auch von Borchard herangezogenen Quelle: „Cäcilia. Ein Taschenbuch für Freunde der Tonkunst“ aus dem Jahr 1833 des Johann Peter Lyser, eines ertaubten Musikers und Musikschriftstellers, der das achte Kapitel seines Almanachs einem Porträt Clara Wiecks gewidmet hatte. Warum bleibt der Autor bei Borchard auch in der 3. Auflage anonym, obwohl er bereits von Dieter Kühn in der Neufassung seines Lebensbuchs über Clara Schumann 1998 genannt wurde? Aber, noch unverständlicher ist folgendes: Quasi als Reaktion auf diesen Artikel Lysers vertonte Clara Wieck eines von dessen „Lieder eines wandernden Malers“, veröffentlicht 1834 ‑ warum (statt das Fragezeichen hinter der Jahreszahl 1834 zu tilgen) fehlt dieses Lied plötzlich in der 3. Auflage in der Liste von Clara Wiecks frühen Kompositionen? Will die überarbeitende Schere der Monteurin, die sie an ihre eigene Liste angesetzt hat, uns hier bedeuten, dass es sich bei dem kürzlich in dem Band II,6 der Schumann-Briefedition (S. 677 u. 769) nochmals bestätigten Sachverhalt um eine falsche Zuschreibung handelt? Hier werden neue Lücken erst herbeigeschrieben.
Die Besuche einer anderen romantischen Frau, Bettine von Arnim, 1853 in Düsseldorf bei den Schumanns (woraufhin sie ‑statt „Diotima“ ‑ Widmungsträgerin der fünf Gesänge der Frühe für Klavier op. 133 wurde) und 1855 in Endenich bei Robert allein (woraufhin sie bittere Klage führte über dessen Behandlung auch durch Clara) sucht man hier vergebens. Clara Schumanns problematische Stellung zum kompositorischen Nachlass ihres Mannes ist ausgeklammert. Das sind sehr heikle Punkte, bei denen man in der Tat mit einer bloßen Montage nicht weit käme, hier wären Wahrnehmung und Interpretation zu eng verzahnt, als dass man es bei einer bloßen Mitteilung belassen könnte.
Borchards Clara-Schumann-Montage will „als ein Gegenmodell zu einer narrativen Heroengeschichtsdarstellung fungieren“ (S. 430) So viele Gefahren in früheren traditionellen Clara-Schumann-Biografien auch lauerten, fragwürdige, korrekturbedürftige Zuschreibungen vorzunehmen, diesem unvermeidlichen Problem der Gattung Biografie entrinnt man nicht durch eine Montage, in der es vorgeblich um die Demonstration falscher Zuschreibungen und damit die Konstitution vermeintlich richtiger geht. Eine sich der „biografischen Illusion“ entledigende Heroinen-Geschichtsschreibung muss nicht unbedingt besser sein, vor allem nicht schon allein dadurch, dass sie sich eines tückischen biografischen Handwerks, dem der Narration und der Interpretation entschlägt, sondern sie müsste sich vor allem traditionell vorgegebener Wertmaßstäbe enthalten. Vielleicht wäre eine handwerklich gut gemachte Biografie über Claras Stiefschwester Marie Wieck, eine sehr bedeutende, heute fast vergessene Pianistin des 19. Jahrhunderts, dringlicher gewesen, als eine auf frisiertes Rohmaterial reduzierte Montage zum heroischen Leben der Clara Schumann in dritter Auflage? Aber dazu müsste man Benjamins Konzept, sich um die Abfälle und die Lumpen der (Musik)Geschichte zu kümmern, um ein lebendiges Bild der Geschichte zu gewinnen, in dem die bisherigen Helden und Heldinnen relativiert würden, sich erst einmal wirklich aneignen wollen.
Peter Sühring
Berlin, Frühjahr 2016
Zuerst veröffentlicht in Schumann-Journal 2016