Russische Musik in Westeuropa bis 1917. Ideen, Funktionen, Transfers / Hrsg. von Inga Mai Groote und Stefan Keym. – München : edition text + kritik, 2018. – 326 S.: Abb., Notenbeisp.
ISBN 9-783-869-167-022 : € 44,00 (kart.)
Erwachsen aus einem mehrtägigen internationalen Symposium (23.–25. Mai 2014, Universität Zürich) und um drei zusätzliche Beiträge ergänzt, zeigt dieser von der Fritz Thyssen Stiftung Köln geförderte Band in beeindruckender Fülle, wie sich in der Zeit bis zum Ersten Weltkrieg die westeuropäische musikalische Landkarte allmählich Richtung Osten erweitert. Welch gravierende Phasenverschiebung sich dabei zwischen künstlerischer Durchsetzung und wissenschaftlicher Durchdringung auftut, wird deutlich, wenn das Konzertrepertoire der vergangenen 100 Jahre mit den darauf bezogenen fachwissenschaftlichen Aktivitäten verglichen wird: Noch bis kurz vor der Jahrtausendwende war es ein Rarissimum, an einer westdeutschen Hochschule überhaupt ein musikwissenschaftliches Seminar zu einem russischen Thema zu erleben, und die Zahl der Buchpublikationen war überschaubar. Erst in den letzten Jahren hat sich eine eigenständige Forschung entwickelt, die aktiv und gut vernetzt ist und inzwischen vermehrt auch aktuelle russische Arbeiten wahrnimmt und aufgreift.
Natürlich fehlen in dem Tagungsbericht einige Namen (Anton Rubinstein), ebenso die Volks- und Kirchenmusik, doch das Symposium hatte ohnehin nicht die großen Komponisten, wichtigen Einzelwerke oder zentralen Strömungen im Blick, sondern – konform zum Untertitel – solche Personen und Denkfiguren, die den Transfer von Ost nach West, speziell die westliche Aneignung und gedankliche Auseinandersetzung mit dieser Musik, ermöglicht haben. Zu diesem Zweck erweitert der vorliegende Band die Bezüge zwischen dem russischen und dem deutschsprachigen Raum um die Achsen Russland-Frankreich, Russland-Italien und Russland-Großbritannien und bietet damit einen facettenreichen Einblick in den aktuellen Status quo eines sich in enormer Bewegung befindlichen Forschungsfelds.
Bei den 16 Beiträgen (plus einer maßstabsetzenden Einführung durch die Herausgeber) macht die zentralen Forschungspersönlichkeit der „ersten Stunde“ den Anfang: Dorothea Redepenning vereint mit ihrem grundlegenden Beitrag zu „Franz Liszt als Mediator russischer Musik in Westeuropa“ zwei langjährige eigene Arbeitsschwerpunkte, mit denen sie der westdeutschen Forschung ihrer Zeit einst weit voraus war. Ihre Geschichte der russischen und der sowjetischen Musik (1994/2008) ist Solitär geblieben, doch mittlerweile spricht eine neue Wissenschaftsgeneration, für die Russland zu einem selbstverständlichen Interessenschwerpunkt geworden ist, ein gewichtiges Wort mit: Neben den beiden Herausgebern (Stefan Keym zur Rezeption russischer Symphonik in Leipzig, Inga Mai Groote zur Rezeption der Jungrussen in Frankreich) zeigen dies Lucinde Braun am Beispiel von Čajkovskijs französischen Interpreten, Philip Ross Bullock an der Rezeption im viktorianischen/edwardianischen England und Christoph Flamm an Sergej Kusevitskij. Mit Freude liest man auch von denen, die in Bezug auf das Themenfeld keine Unbekannten sind, ohne sich dabei der russischen Musik gezielt verschrieben zu haben: Wolfram Steinbeck (einst mit einem Beitrag zu Čajkovskijs Zweiter Sinfonie ein früher und mutiger wissenschaftlicher Verfechter dieses Komponisten, ist hier mit einer Untersuchung zu Gustav Mahlers Čajkovskij-Rezeption vertreten), Helmut Loos (zu Paul Juon) oder Stefan Weiss (zu Arthur Nikisch). Dazu kommen Forscherinnen und Forscher aus den thematisierten Ländern – allen voran die Muttersprachlerinnen Anna Fortunova, Marina Raku, Jeanna Kniazeva – und einige weitere, deren Beiträge sich sinnstiftend in das reiche Panorama dieses Bandes einfügen.
Dass gleich drei Untersuchungen Petr Čajkovskij zum Gegenstand haben, verwundert nicht angesichts des seit über 25 Jahren andauernden unermüdlichen Wissensaustauschs zwischen der Tschaikowsky-Gesellschaft e. V. und Moskau, Petersburg und Klin. Hoch anzurechnen ist, dass auch hier nicht der Komponist im Fokus der Untersuchungen steht, sondern ein kulturgeschichtlicher Ansatz (die Herausgeber sprechen von „Kulturtransferforschung“), der diejenigen Personen beleuchtet, denen zu verdanken ist, dass Čajkovskijs Musik im Westen Fuß fasste: den Hamburger Intendanten Bernhard Pollini (untersucht von Marina Raku), den Pianisten Louis Diémer (Lucinde Braun) und den Dirigenten Gustav Mahler (Wolfram Steinbeck). Sie alle haben als Vermittler von slawischem Repertoire gewirkt – wie auch die Dirigenten Hans von Bülow (Hans-Joachim Hinrichsen), Arthur Nikisch (Stefan Weiss) und Sergei Kusevitskij (Christoph Flamm) oder der in beiden Welten verankerte Komponist Paul Juon (Helmut Loos).
Daneben hat sich in Europa stets die Frage nach dem Nationalen, nach Art und Individualität der slawischen Musik gestellt. Hier setzen die Beiträge zu Jacques Handschin (Jeanna Kniazeva) und Oskar von Riesemann (Anna Fortunova) an, deren Schriften noch heute eine wichtige Vermittlungsfunktion einnehmen. „Are you musical?“ fragt sodann Philip Ross Bullock und verknüpft Musik mit „Sexuality and Social Utopianism in the Reception of Russian Music in Late-Victorian and Edwardian Britain“, während Roland Huesca die Ballets Russes als „Anatomie des Geschmacks der Belle Époque” seziert. Und auch Vincenzina C. Ottomanos „Überlegungen zur Rezeption russischer Opern in Italien” (speziell Glinkas Leben für den Zaren und Mussorgskis Boris Godunow) und Steven Baurs „Russia, Western Europe, and Pictures at an Exhibition“ legen den Schwerpunkt verstärkt auf die Denkfigur des Russischen in einem nichtslawisch geprägten Kontext.
Diese Denkfigur bildet sich beim Lesen auch zwischen den einzelnen Beiträgen heraus. Der Wahrnehmungswandel vom vermeintlich barbarischen Russland zur Kulturnation ist ein umwegreicher Prozess: „Welche Instanzen sind dafür verantwortlich, dass bestimmte musikalische Werke ins Repertoire und in den Kanon finden und andere überhaupt nicht oder nur vorübergehend?” (S. 32) fragt Hans-Joachim Hinrichsen. „Der Transfer von Musik lässt sich nicht nur auf der Ebene von Diskursen oder im Bereich der kompositorischen Rezeption verfolgen. Die Voraussetzungen für eine wachsende Auslandspräsenz russischer Musik in Europa […] muss man auch im Ausbau eines institutionellen Netzwerks suchen, das den Export einer zunächst wenig bekannten Musikkultur in die europäischen Kernländer sowie nach Nordamerika ermöglichte“ (S. 267) lautet eine der möglichen Antworten bei Lucinde Braun. Hierzu gehören auch Notendruck, Musikalienhandel, musikalischer Journalismus, persönliche Kontakte und die Nationalitäten der an konkreten Aufführungen beteiligten – oder auch nicht beteiligten – Musikerinnen und Musiker.
Die Möglichkeiten von Diskursen und die Frage nach den Kreisen, in denen das Russischsein der russischen Musik diskutiert wird (und ob dies modisch oder intellektuell, publikumsbezogen oder fachspezifisch, musizierend oder theoretisierend geschieht), berührt die Frage, welche Werke ab wann tatsächlich zugänglich waren und rezipiert werden konnten. Hierzu enthält der vorliegende Tagungsband eine Fülle von grundlegendem Datenmaterial bis hin zu der synoptischen Darstellung wichtiger Aufführungsdaten im deutschsprachigen, frankophonen sowie restlichen europäischen Raum, die als Anhang beigegeben ist. Gleichzeitig zeigt sich, dass die rezipierenden Personen ebenfalls Gegenstand von Rezeption sind – besonders deutlich wahrnehmbar bei den untersuchten Dirigenten: Bei dem dirigierenden Komponisten Gustav Mahler denkt selbst der Fachmann erst in zweiter oder dritter Linie an dessen Aufführungen russischer Musik.
Insgesamt hängt die Resonanz der Bemühungen um russische Musik „nicht nur mit dem transferierten Produkt, sondern auch und vor allem mit den jeweiligen ästhetischen Traditionen und daraus resultierenden Erwartungshaltungen sowie mit der damaligen (kultur‑)politischen Situation in den aufnehmenden Ländern zusammen“ (S. 11). Die Herausgeber betonen, wie sehr auch die Sicht auf die eigene Musikkultur dazugehört. Die „Untersuchung eines solchen Aneignungsprozesses, bei dem das Fremde durch das Prisma der eigenen Bedürfnisse wahrgenommen und dabei charakteristisch gebrochen wird“ (S.13), nennen sie „Kulturtransferforschung“, weil diese im Unterschied zur „Rezeptionsforschung“ „grundsätzlich von einem kollektiven Blickwinkel“ (S. 14) ausgehe.
Erschien die Rezeption russischer Musik in Westeuropa im 19. Jahrhundert noch als nationalgeschichtliches Phänomen, so rückt sie aus Sicht einer solchen Kulturtransferforschung unter die Prämisse einander überschneidender Kontexte und Bedingungsgefüge, sodass die vielfach verflochtenen Aspekte kultureller Wahrnehmungs‑ und Verbreitungsformen als die eigentliche Herausforderung einer Darstellung russischer Musik (nicht nur in Westeuropa) erscheinen – eine Herausforderung, der sich die Autorinnen und Autoren dieses Buches mit Akribie und Leidenschaft gestellt haben.
Inhaltsverzeichnis
Kadja Grönke
Oldenburg, 13.04.2019