Peter Sühring: Felix Mendelssohn. Der (un)vollendete Tonkünstler. – Berlin: Hentrich & Hentrich, 2018. – 98 S.: Abb. (Jüdische Miniaturen ; 227)
ISBN 978-3-95565-285-2 : € 9,90 (kt.)
Ein neues Buch über einen bekannten klassischen Komponisten ist immer ein Wagnis, eine „Miniatur“-Darstellung umso mehr – läuft sie doch ganz besonders Gefahr, lediglich das bereits längst Bekannte und vielfach Beschriebene auf einem für Laien zugänglichen Niveau wieder aufzuwärmen und zu komprimieren. Peter Sühring formuliert sein Ziel dezidiert anders: Sein Büchlein „kann keine detaillierte und abgerundete Biografie oder Werkeinführung des Musikers geben; eher kann man sie stellenweise als eine Art Gegendarstellung betrachten.“ Der Autor orientiere sich „an neuralgischen Punkten, Lebensstationen und einzelnen Momenten, die für Mendelssohns Wirken konstitutiv oder charakteristisch waren und nicht im allgemeinen Bewusstsein sind.“ (S. 7) Es ist ein hoher Anspruch und eine komplexe selbstgestellte Aufgabe, die der Autor in jedem Fall bravourös erfüllt, – soweit die bescheidenen Dimensionen einer Buchminiatur das überhaupt zulassen. Dabei gelingt Peter Sühring das Kunststück, zugleich auch die wesentlichen Stationen des Lebensweges Mendelssohns präzise darzustellen und die wichtigsten Informationen über sein Schaffen zu vermitteln. Somit ist das Buch nicht nur für die „allwissenden“ Profis spannend, die hier in der Tat einige originelle Ansätze und neue Sichtweisen finden, sondern auch für die musikinteressierten Laien, die sich der hochproblematischen Geschichte der Mendelssohn-Rezeption – einer durch und durch deutschen Geschichte, die jedoch die weltweite Wahrnehmung dieses genialen Komponisten beeinträchtigte, – möglicherweise gar nicht bewusst sind.
Die vorliegende Miniatur macht nochmals deutlich, dass für das Leben und Werk Mendelssohns – im Gegensatz zu den meisten anderen bedeutenden Komponisten seiner Zeit – durchaus noch ein beträchtlicher Forschungsbedarf besteht. Es geht dabei nicht nur um verschiedene Deutungsmöglichkeiten, sondern auch um handfeste Wissenslücken. Erst in den letzten Jahren wurde eine erste umfassende kritische Ausgabe von Mendelssohns Briefen veröffentlicht. Noch immer sind mehrere seiner Werke nur in Manuskriptform vorhanden: Eine vollständige akademische Edition steht noch aus.
Sührings Buch ist in drei Teile gegliedert: Der biografischen Darstellung, die an Mendelssohns Lebensmittelpunkte in Berlin, Leipzig und Düsseldorf anknüpft, folgt eine Auswahl von einigen bedeutsamen Aspekten seiner Persönlichkeit – „Familie und Freunde“, „Reisen, Briefeschreiben und Zeichnen“ sowie „Mendelssohn und das Judentum“. Der dritte Teil ist eine Übersicht der musikalischen Werke: Dabei gelingt es dem Autor auf 30 kleinformatigen Seiten einen prägnanten und sinnvollen Überblick anzubieten, der einerseits streng nach Gattungen geordnet ist, andererseits aber wichtige eigene Schwerpunkte setzt. So gilt ein besonderes Augenmerk dem Frühwerk Mendelssohns. Zu Recht betont Sühring, dass dieses „mindestens ebenso ernst zu nehmen [ist], wie spätere Schöpfungen. In ihm ist nämlich […] der ursprüngliche Elan, der Erfindungsreichtum und die Nachdenklichkeit des jungen Musikers Mendelssohn aufbewahrt und hörbar. Besonders beachtenswert sind hier die Stücke voll Melancholie und Traurigkeit, die man dem angeblich unbeschwert glücklichen Knaben und Jüngling gar nicht zutrauen würde.“ (S. 60f.) Das Schubladen-Denken ist in Bezug auf Mendelssohn ganz besonders ausgeprägt, umso wichtiger sind die Anregungen, die verbreiteten Klischees zu hinterfragen. Mendelssohn war zwar kein musikalischer Revoluzzer, allerdings wurzelt das zeitlose Wirken seiner Musik nicht zuletzt in ihrer formalen und harmonischen Kühnheit, die jedoch nicht vordergründig ist. Mendelssohn war aber insofern ein „klassischer“ Künstler, als er sich der damals aufkommenden ideologisierten Musikauffassung der Neudeutschen Schule verweigerte. „Für Mendelssohn hatte die Musik für sich zu sprechen und sie konnte dies in seinen Ohren auch eindeutiger und bestimmter als über den Umweg mehrdeutiger und missverständlicher Worte. Dass gegenwärtige Musik immer in einem lebendigen Austausch zwischen Vergangenheit und Zukunft steht, zwischen einem Anknüpfen an tradierte Techniken und zugleich einem Sich-Öffnen für Neuerungen, war ihm eh eine Selbstverständlichkeit und konnte für ihn nur im Rahmen eines demokratisch und liberal organisierten Konzertlebens und nur durch reale Hörerfahrungen des Publikums realisiert werden und nicht durch sektiererische und avantgardistische Propaganda.“ (S. 64) Es sollte sich im Laufe der Jahrzehnte nach Mendelssohns Tod herausstellen, dass diese Auffassung, die im Grunde das Erbe der Aufklärung war, in Deutschland immer weniger akzeptiert und dass ein freier Austausch zunehmend durch „sektiererische Propaganda“ ersetzt wurde. Unter diesen Bedingungen wurde das Werk Mendelssohns – der seinerzeit jegliche publizistische Betätigung konsequent ablehnte – massiven Vorurteilen und Benachteiligungen ausgesetzt.
Sehr gelungen ist ebenso der biografische Teil der Arbeit, in dem der Autor ebenfalls immer wieder mit gängigen Klischees aufräumt. Interessant ist zum Beispiel die ausführliche Darstellung der Rolle Ludwig Bergers als Mendelssohns Lehrer, der in der Regel im Schatten der prominenten Persönlichkeit von Carl Friedrich Zelter steht und dem Leser in diesem Kontext kaum bekannt sein dürfte.
Weniger überzeugend wirkt lediglich das Unterkapitel „Mendelssohn und das Judentum“. Dieses Thema wurde schon vielfach diskutiert, wobei die Standpunkte denkbar unterschiedlich sind. Einleuchtend sind beispielsweise die diesbezüglichen Publikationen des amerikanisch-jüdischen Dirigenten und Musikwissenschaftlers Leon Botstein, nach dessen Auffassung „Mendelssohn eine wichtige Selbstidentifikation mit Judentum und Juden beibehielt und […] einen lebenslangen Stolz und eine restliche Loyalität aufrechterhielt, die völlig mit seiner persönlichen protestantischen Verpflichtung vereinbar waren“ (Leon Botstein: Mendelssohn and the Jews. In: The Musical Quarterly, Vol. 82, No. 1, Spring, 1998, S. 218). Botstein und einige andere Autoren, darunter David Conway mit seiner Monografie Jewry in Music: Entry to the Profession from the Enlightenment to Richard Wagner (Cambridge 2012), haben Mendelssohns komplexe jüdisch-deutsche und jüdisch-christliche Identität ausführlich analysiert.Peter Sühring beschäftigt sich dagegen zu sehr mit den religiösen Definitionen des Jüdischen – die halachischen Bestimmungen erscheinen in diesem Kontext aber wenig relevant. So wird gleich an mehreren Stellen die – nicht durchgeführte – Beschneidung erwähnt. Abraham Mendelssohn „ging mit seinen Kindern nicht in die Synagoge, hielt den Sabbat nicht ein, ließ nicht koscher kochen“ etc. (S. 53f.): Allerdings machte das alles ihn an sich nicht weniger jüdisch – so verhalten sich mittlerweile die meisten Juden der Welt, die auf religiöse Normen keinen oder nur geringen Wert legen. Zu Mendelssohns Zeiten war das säkulare Judentum zwar noch keine Selbstverständlichkeit, dennoch waren schon damals viele gebildete Juden auf der Suche nach säkularen Alternativen zu den herkömmlichen Formen des jüdischen Lebens, wie etwa das Beispiel des 1819 in Berlin gegründeten „Vereins für Cultur und Wissenschaft der Juden“ zeigt. Etwas deplatziert erscheinen auch die Ausführungen über die Verwendung des Begriffs Antisemitismus: Ob die Judenfeindschaft zu Mendelssohns Lebzeiten mit diesem Begriff bezeichnet werden darf oder nicht, trägt wenig zu ihrem Verständnis bei. Interessanter wäre zu erfahren, welchen Einfluss diese Anfeindungen auf Mendelssohns Selbstverständnis als Deutscher und als Jude hatten.
Insgesamt ist Peter Sührings Buchminiatur als wertvoller, origineller und packender Beitrag zu Mendelssohns Rezeption ausdrücklich zu empfehlen. Es ist eine sehr gelungene, stellenweise sogar geradezu brillante Darstellung, die hoffentlich ihren Weg zu vielen Lesern finden wird.
Jascha Nemtsov
Berlin, 23.02.2019