Ralph Vaughan Williams / Hrsg. von Ulrich Tadday [Jürgen Schaarwächter]

Ralph Vaughan Williams / Hrsg. von Ulrich Tadday. – München: edition text + kritik, 2018.– 218 S.: Notenbsp., Abb. (Musik-Konzepte. Neue Folge, Sonderband.)
ISBN 978-3-86916-712-1 : € 38,00 (kt., auch als eBook)

1983 erschien die wohl erste substanzielle Buchpublikation zu Ralph Vaughan Williams in deutscher Sprache – Lutz-Werner Hesses Kölner Dissertation vornehmlich zu den Sinfonien, im Gustav Bosse Verlag Regensburg. Die Arbeit, die auch der britischen Musikforschung von Nutzen hätte sein können, setzt die Standards für eine Folgepublikation beachtlich hoch; leider kann der nun vorliegende Sammelband weder konzeptionell noch von der wissenschaftlichen Tiefe mit der Vorgängerpublikation mithalten. Das Konzept der neuen Publikation ist für den knappen Raum denkbar ambitioniert – nicht nur sollen sämtliche neun Sinfonien Behandlung erfahren sondern auch möglichst alle anderen Schaffensbereiche des Komponisten. Da muss vieles zwangsläufig simplifiziert werden, und nicht jeder der Autoren ist den Zwängen des knappen Platzes in entsprechend wissenschaftlicher Dichte gewachsen.
Florian Csizmadia, Annika Forkert und Habakuk Traber erkunden aus unterschiedlicher Perspektive die Sinfonien – ohne die Problematik der „Neun“, auf die der Rezensent schon vor einigen Jahren hingewiesen hat, auch nur anzureißen – aber auch ohne einen Blick auf die Problematik von Vaughan Williams‘ verworfenen früheren Sinfonien (zu der sich die Quellenlage in den vergangenen Jahren erfreulich erweitert hat). Hier rächt es sich, dass nur Forkert sich über Jahre intensiv mit Vaughan Williams‘ Schaffen befasst hat: das spiegelt sich in der Literaturkenntnis (Csizmadias Einlassungen zu den ersten drei Sinfonien) ebenso wie in mangelhafter Kontextualisierung der Sinfonien (offenbar hat Traber noch nie von Sinfonien von William Alwyn, Edmund Rubbra oder Malcolm Arnold gehört, um nur einige naheliegende Zeitgenossen der Sinfonien 6–9 zu erwähnen).
Die undankbare Aufgabe, Vaughan Williams‘ weiteres Schaffen aufzublättern, teilen sich David Manning (konzertante, nicht sinfonische und nichtvokale szenische Musik), Rupert Marshall-Luck (Lieder und Kammermusik), Erik Dremel (Chor- und Kirchenmusik – merkwürdigerweise unter Auslassung der Kantate Dona nobis pacem, 1911–36!) und Panja Mücke (Opern). So problematisch diese Aufteilung bei Vaughan Williams ist (Flos campi etwa ist ein Werk für Soloviola, Orchester und vokalisierenden Chor, die Schauspielmusiken, „Pageants“ und „Masques“, teilweise sogar die Opern sind bewusst zwischen den heute üblicherweise angesetzten Gattungen angesiedelt), so lückenhaft muss sowohl im Einzelnen wie im Großen die Erkundung bleiben; nicht selten erweisen sich die Einlassungen als konzertführerhafte Zusammenfassungen, die wohl aus Platzgründen wie auch durch offensichtliche Lücken in der Literaturkenntnis (hier wurde häufig die Forschung der vergangenen fünfzehn Jahre ignoriert) keine umfassendere Vertiefung erfahren können. Marshall-Luck, von Hause aus Geiger, bemüht sich gar nicht erst um eine Literatursicht und bietet gerade hierdurch ausgesprochen erhellende Einlassungen besonders zu den Six Studies in English Folk Song, den Vokalwerken Merciless Beauty und On Wenlock Edge (beides keine Liedopera im gängigen Sinne), der Romance für Viola und Klavier und der Violinsonate.
Schlussendlich wird der Blick auf zwei Werke exemplarisch vertieft: einerseits auf das „Doppelwerk“ Sinfonia Antartica (1949-52)/Filmmusik zu Scott of the Antarctic (1948) (die Arne Stollberg spannend aus der Perspektive der Filmmusik erkundet, ohne aber klar zwischen Filmmusikpartitur und Sinfonie zu unterscheiden), andererseits auf die „Morality“ The Pilgrim’s Progress, eher Masque als Oper, eher Mysterienspiel als Musik fürs Opernhaus – eine Thematik, die Vaughan Williams seit 1906 fast durchgehend beschäftigte, ehe er 1951-2 die Komposition „abschloss“. Norbert Abels hat offenkundig keinen Zugang zu diesem hybriden Werk und erkundet lieber philosophische Aspekte als die musikalische und emotionale Bedeutung des Sujets für den Komponisten in ihren zahllosen Manifestationen, der Kantate The Shepherds of the Delectable Mountains über Hörspielmusik und die Verwendung von thematischem Material in der Fünften Sinfonie bis zu Vaughan Williams‘ „summum opus“.
Meinhard Saremba führt mit einem fesselnden Beitrag in verschiedene Aspekte von Leben und Werk Vaughan Williams‘ ein (vor allem in die deutsche und mitteleuropäische Rezeption des Komponisten) und bereitet so einen bequemen Grund, auf dem sich aber die meisten der Autoren des Bandes nur etwas unsicher tummeln (vor allem fehlen die offensichtlichen zu eröffnenden Querlinien in Vaughan Williams‘ Schaffen). Es hätte dem Herausgeber gut angestanden, noch stärker den Fokus entweder auf Einzelwerke zu legen oder mehr Platz zur Verfügung zu stellen. So bleibt nur auf eine neue Publikation – mit Blick auf „Brexit“ vielleicht erst recht und bewusst in Folge einer internationalen, auf dem europäischen Festland stattfindenden Vaughan Williams-Tagung – zu hoffen, die die Säumnisse der vorliegenden Publikation nicht nur auffängt, sondern den spezifisch „unkonventionellen“ Blick auf britische Musik, der in einigen der vorliegenden Beiträgen durchaus zu Tage tritt, vielleicht noch etwas stärker verfolgt, und außerdem die gegenwärtig virulenten Forschungsthematiken mit einbezieht. Denn dies war doch früher das Konzept der Reihe „Musik-Konzepte“.
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Jürgen Schaarwächter
Karlsruhe, 09.01.2019

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