Welt – Zeit – Theater. Neun Untersuchungen zum Werk von Bernd Alois Zimmermann / Hrsg. von Oliver Korte [Rüdiger Albrecht]

Welt – Zeit – Theater. Neun Untersuchungen zum Werk von Bernd Alois Zimmermann / Hrsg. von Oliver Korte – Hildesheim [u.a.]: Olms, 2018. – 248 S: Farbfotos, Farb- und s/w-Abb., Notenbsp. (Schriften der Musikhochschule Lübeck ; 2)
ISBN 978-3-487-15664-4 : € 58,00 (geb.)

Anlässlich des mit zahlreichen Konzerten, etlichen Radiosendungen der ARD-Kulturprogramme, Bettina Zimmermanns verdienstvollem Buch über ihren Vater und mehreren Symposien gefeierten 100. Geburtstages des Kölner Komponisten Bernd Alois Zimmermann am 20. März dieses Jahres ist der sorgfältig lektorierte und mit etlichen Abbildungen versehene Sammelband Welt – Zeit – Theater erschienen. Der Titel öffnet einen weiten Assoziationshorizont, nicht nur für die zwei Stichworte „Welt“ und „Zeit“. Mit dem „Theater“ ist es einfacher: Zimmermann, der etliche Bühnenwerke auch im Bereich der angewandten Musik schuf, muss neben dem jüngeren Hans Werner Henze als der Prototyp des Theaterkomponisten seiner Generation gelten, seine Oper Die Soldaten ist die vielleicht erfolgreichste Oper der 1960er Jahre – zu einer Zeit, als es in Kreisen der musikalischen Avantgarde kaum vermittelbar war, Opern zu schreiben (und nicht Anti-Opern). Die „Zeit“ im Buchtitel dürfte kaum einen geschichtlichen Ort meinen, eher den zentralen Fixpunkt von Zimmermanns Musikphilosophie (die zu einem nicht unwesentlichen Teil eine Zeitphilosophie ist).
Oliver Korte, Herausgeber und Autor zweier Beiträge dieses Bandes, der 2003 eine Schrift über Zimmermanns letztes Werk, die Ekklesiastische Aktion, vorgelegt hat, geht davon aus, dass die Rezeption Zimmermanns in eine neue Phase getreten ist: Von dem Komponisten, der einst in eine Nische am Rande der Avantgarde – genauer gesagt, am Rande der „Darmstädter Tage für neue Musik“ – gedrängt wurde, zu dem „jüngsten Klassiker“ unserer Tage (S. 9).
Der Schriftenband versammelt neun Beiträge von sieben Autoren, von denen fünf der jüngeren bzw. jungen Generation der Zimmermann-Forscher angehören; der Herausgeber Oliver Korte sowie Andreas Dorfner sind mit je zwei Aufsätzen vertreten. Als inhaltlichen Schwerpunkt benennt Oliver Korte die Kategorie des Theatralen, die neben Bühnenwerken auch zwei gewichtige Vokalwerke, Omnia tempus habent und das Requiem für einen jungen Dichter miteinschließt. Einen formalen Rahmen bilden hierzu musikalische Analysen, in denen sich beide Aspekte, die Analyse und das Theatrale, in mehreren Aufsätzen ergänzen.
Andreas Dorfner, der derzeit an einer Monografie über Die Soldaten arbeitet, legt in seiner sorgfältigen Studie das überaus komplexe Beziehungsgeflecht offen, das Zimmermanns frühes Funkoratorium (bzw. -oper) Des Menschen Unterhaltsprozeß gegen Gott mit dem Requiem für einen jungen Dichter, der Ekklesiastischen Aktion und der Oper Die Soldaten (und weiteren Werken) verbindet. Dorfner zeigt den für das Werkverständnis großen Stellenwert der Texteinrichtung Zimmermanns auf: Bereits in einzelnen Werken der frühen 1950er Jahre wendet dieser Montage- bzw. Collagetechniken an, welche in den Werken von 1960 an essenziell werden (was lange Zeit als Signum Zimmermannschen Komponierens galt). Stand in der frühen Sekundärliteratur zu Zimmermann das Konzept von Montage und Collage häufig im Vordergrund analytischer Betrachtungen der Werke der 1960er Jahre, so dominiert im vorliegenden Sammelband eher der Aspekt des integral verknüpften Gesamtwerks. Das Thema klingt in mehreren Beiträgen an, insbesondere in Kortes Aufsatz über das Dona nobis pacem im Requiem für einen jungen Dichter. Heribert Henrich gelingt es in seinem Beitrag, die vom Komponisten intendierte Bedeutung des Chorals in der zweiten Szene des zweiten Aktes der Oper Die Soldaten aus der vergleichenden Betrachtung des Gesamtwerkes und aus dem Quellenmaterial zu entschlüsseln. Gerade in Henrichs Aufsatz erweist sich die Stärke einer Gehaltsanalyse, wenn, wie hier, die Sicht auf ein Werk, die sich in bisherigen Interpretationen und Inszenierungen verfestigt hat, aufgebrochen und neugedeutet wird.
Drei Beiträge diskutieren Zimmermanns Annäherung und Überwindung serieller Verfahren anhand jeweils eines Werkes. Oliver Korte zeigt in seinem Beitrag über die Kantate Omnia tempus habent, wie sich Zimmermann aus der Analyse von Weberns Konzert op. 24 und der Lektüre von Stockhausens Aufsatz über die „Gruppenkomposition“ eine quasi-serielle Materialvorordnung erschafft, die auf der Vorordnung der Tonhöhen und der Verwendung rhythmischer Zellen und darauf aufgebauter rhythmischer Reihen gründet. Zimmermann überwindet hier die orthodoxe 12-Tontechnik durch die Bildung einer Reihe, welche durch die Aufteilung in Dreitongruppen (wie in Weberns Opus 24) eine kaleidoskopische Vieldeutigkeit gewinnt. Die Reihe verliert auf diesem Weg das Individuelle melodischer Prägnanz, Intervalle und Tonhöhen werden durch die Permutationen austauschbar – die Funktion der Reihe verlagert sich hin zu einer Bildung von Aggregaten. Oliver Korte attestiert diesem Verfahren eine „Nähe [zum] modalen Denken“ (S. 46). Andreas Dorfner weist in seinem Aufsatz über die Dialoge nach, wie Zimmermann in den Werken dieser Zeit (die Dialoge sind in der Erstfassung 1960, zwei Jahre nach Omnia tempus habent entstanden) serielle Verfahren entwickelt, die immer mehr dahin tendieren, nicht mehr ohne weiteres ableitbare Tonhöhenfolgen und Akkordbildungen zu generieren. Beispielhaft hierfür stehen Passagen in den Dialogen wie bereits die Streicherpassage ganz zu Beginn des ersten Dialogs (in der Fassung 1960), dessen individuelle Tonverläufe unter der Oberfläche einer Massenstruktur verschwinden, wie dies György Ligeti etwa gleichzeitig in den Apparitions realisiert hat (Karlheinz Stockhausen zuvor in einigen Passagen der Gruppen für drei Orchester). Dass die seriellen Verfahren auf diesem Stand des Komponierens nur mehr generative Funktion haben, deutet Dorfner an, wenn er schreibt, dass in der zweiten Fassung der Dialoge (1965) die Herkunft der Tonhöhendisposition gelegentlich nur noch erahnt werden könne (S. 64).
Eine überaus detaillierte und grafisch bestens aufgearbeitete Tonhöhen- und Reihenanalyse der ersten beiden Szenen von Zimmermanns Klaviertrio Présence legt Sascha Lino Lemke vor. Nach einführenden Erläuterungen stellt Lemke die grafische Analyse von jeweils einer von 9 Partiturseiten auf der linken Seite des Buches eine Erläuterung auf der rechten Seite gegenüber. Das „Ziel dieses Artikels […], einen Vorstoß in die Analyse der Tonhöhen zu wagen“ (S. 76) ist gewiss eindrucksvoll gelungen. Dennoch stellt sich die Frage nach dem Erkenntnisgewinn einer derartigen Unternehmung und inwieweit dieser nicht in einem ungünstigen Verhältnis zu dem Aufwand der Analyse steht. Auch wenn der Autor seiner Fragestellung an den Notentext treu gefolgt ist, kann doch kaum bezweifelt werden, dass eine quasi buchhalterische Aufarbeitung kompositorischer Verfahren, ohne den Blick auf weitere Parameter auszuweiten, ganz zu schweigen von einem hermeneutischen Ansatz, nur die Voraussetzung für eine Analyse sein kann, jedoch nicht sie selbst.
Dem theatralen, performativen Aspekt von Zimmermanns Schaffen widmen sich zwei Aufsätze. Regine Elzenheimer geht den Quellen und Voraussetzungen von Zimmermanns Idee eines „totalen Theaters“ bei Walter Gropius, Erwin Piscator, Antonin Artaud und anderer visionärer Konzepte hauptsächlich der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts nach. Zimmermanns Interesse (im Rahmen der Komposition seiner Oper Die Soldaten zwischen 1957 und 1965) wandelt und entwickelt sich beständig; steht um 1960 noch die musikalische Idee des Pluralismus in ihrer kompositorischen Ausgestaltung im Fokus des Interesses, so verlagert sich dieses hin zu den architektonischen Forderungen an den (aus heutiger Sicht zwiespältigen) Begriff des „Totalen Theaters“. Wie Regisseure mit dieser Utopie umgehen, zeigt die Autorin anhand von fünf Inszenierungen der Soldaten aus jüngster Zeit, die sie nach den genannten Kriterien befragt. Angesichts Zimmermanns utopischer Vision eines integralen Pluralismus mündet die Untersuchung der Autorin in einem Fragezeichen, was die nach dem heutigen Stand mögliche Einlösung dieser Utopie in Zimmermanns Werk anbelangt.
Oliver Kortes zweiter Beitrag ist ein die Quellen berücksichtigender und bewertender Aufsatz zum letzten Satz des Requiems für einen jungen Dichter. Er kommt hierbei zu verblüffenden Ergebnissen, beispielsweise was die Geschichte des Arbeiterliedes Brüder, zur Sonne, zur Freiheit anbelangt, und zeigt, nicht weniger aufschlussreich, wie der Komponist dieses Lied von einem Zitat in serielles Material, einen „cantus firmus“, verwandelt (S. 150f.).
Ein wenig aus dem Rahmen des Buches fallen die beiden letzten Aufsätze. Martin Zenck geht das Wagnis ein, eine kaum in die Planungs-, geschweige denn Projektphase getretene Idee Zimmermanns – nämlich Hans Henny Jahnns Tragödie Medea in Musik zu setzen – in das Zentrum seiner Erörterungen zu stellen. Auch wenn Zenck in der Einleitung seines Aufsatzes klarstellt, dass es sich bei dem Medea-Projekt weder um ein Werk, noch um ein Dokument (nach Walter Benjamins Definition) handelt, allenfalls um eine Konzeption, so verrät sein Sprechen über die Medea die Überzeugung, es handele sich gar um eines der Hauptwerke der letzten Lebensjahre Zimmermanns. Außer Eintragungen und Strichen in Jahnns Textvorlage, einem Filmszenarium und Zeichnungen, die der Medea nicht einmal zweifelsfrei zugeordnet werden können, hat Zimmermann das Projekt in Briefen erwähnt, mehr gibt es nicht. Zencks Versuch, den unterschiedlichen Medea-Lektüren eine Zimmermannsche Medea zur Seite zu stellen, ist angesichts des dürftigen Quellenmaterials mehr als gewagt. Nicht nur zum Scheitern verurteilt, sondern geradezu sinnlos erweist sich diese Unternehmung, zieht man in Betracht, dass sich die Hauptwerke Zimmermanns über Jahre hin entwickelt haben und von der ursprünglichen Konzeption im Werk oft kaum noch Spuren zu finden sind. Hätte Zimmermann seine 1957 begonnene Oper Die Soldaten im Jahre 1958 abgeschlossen und nicht erst nach zahllosen Brüchen und Neuansätzen sieben Jahre später (1965), wir hätten ein Werk vor uns, das mit dem heutigen nur wenig gemein hat – und, noch wichtiger: dessen Verbindungslinien zum endgültigen Werk nicht einmal offenliegen müssten.
Oliver Wiener fahndet in seinem Schlussbeitrag nach den Spuren, die Zimmermanns Komponieren in einigen Werken der Gegenwart hinterlassen hat. Die wenige Jahre nach Zimmermann Freitod, Mitte der 1970er Jahre auftretende Generation junger Komponisten, der man damals das Etikett „Neue Einfachheit“ anheftete, war die erste, die sich auf sein Werk berief. Der Autor beginnt die Spurensuche allerdings eine Generation später, mit Komponisten und Komponistinnen wie Iris ter Schiphorst und Helmut Oehring, Marco Stroppa, Robert HP Platz und etlichen anderen.
Der Großteil der Beiträge des verdienstvollen Buches basiert auf der Berücksichtigung von Skizzen und Entwürfen aus dem Nachlass des Komponisten. Das Buch belegt überzeugend, dass man der Komplexität des Zimmermannschen Denkens und Schaffens auf dem heutigen Stand der Zimmermann-Forschung nur gerecht werden kann, indem man das in der Berliner Akademie der Künste gesammelte und in Heribert Henrichs Werkverzeichnis nachgewiesene und aufgearbeitete Quellen- und Skizzenmaterial in die analytische Arbeit mit einbezieht. Kaum überzogen mag die Prophezeiung sein, dass, wer sich mit dem Schaffen von Bernd Alois Zimmermann befasst, an diesem Buch künftig nicht vorbeikommt.
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Rüdiger Albrecht
Berlin, 18.07.2018

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