Sabine Müller: Eduard Künneke, Leben und Werk [Andreas Vollberg]

Müller, Sabine: Eduard Künneke, Leben und Werk. – Emmerich am Rhein: Verlag des Emmericher Geschichtsvereins e.V., 2018. – XIII, 409 S.: farb. Abb., Notenbsp., Tab., 1 Audio-CD (Emmericher Forschungen ; 36)
ISBN 3-923-692-55-2 : € 48,00 (geb.)

Unpopulär war er nie. Doch wer kennt ihn wirklich? Zwar zählt Eduard Künneke (1885-1953) zu den Synonymen für die Erfolgsoperette der 20-er und 30-er Jahre. Doch wer tiefer blickt und das im Repertoire Verbliebene durch Hören und Sichten überprüft, stimmt einem Selbstzeugnis des gebürtigen Niederrheiners zu: „Ich bin kein Operettenkomponist!“ Wie und warum? Es ließ sich nach bisherigem Kenntnisstand durch verstreute Befunde erahnen. Aus der Ahnung wurde nun Wissen, Bestätigung und/oder Revision. Denn einen in vorgelegter Form bis dato unerreichten Meilenstein der Erforschung, Analyse und Bewertung von Leben und Werk liefert Sabine Müller mit einer von der Universität Bremen angenommenen Dissertation, die der Geschichtsverein von Künnekes Geburtsstadt Emmerich in seine Publikationsreihe aufgenommen hat. Neben ihrer langjährigen Arbeit als Regieassistentin und freiberuflichen Autorin, der sich verdienstvolle Konzert- und Funkfassungen neu ausgegrabener Operetten-Schätze für WDR-Produktionen verdanken, investierte die Musikwissenschaftlerin und Sprecherzieherin nicht nur Zeit und Herzblut. Vielmehr bewahrte sie auch unter Einsatz privater Mittel wertvolles Quellenmaterial vor dem Verschwinden. Gedroht hätte dieses einem Fundus aus dem Nachlass der prominenten Künneke-Tochter Evelyn, der nach deren Tod 2002 aus einem Müll-Container (!) von diversen Trödlern gerettet und in alle Himmelsrichtungen veräußert worden war.
Zum Glück bedingen die Schriftstücke nun den Pionierstatus des in reicher, aber wohl strukturierter Fülle ausgebreiteten Forschungsertrags von Müllers Arbeit, die neben neuer Quellenauslegung erstmals eine umfassend zu nennende, gattungsübergreifende Dokumentation von Werdegang und Werk Eduard Künnekes aufbietet. Gleichwohl erhebt sich kein Anspruch auf der Weisheit letzten Schluss.
Im Grundgerüst als Biographie konzipiert, findet der Panoramaflug über das Künneke-Oeuvre seine Start- und Landepunkte im Lebenslauf, navigiert dabei über weiteste Strecken – manchmal zeitlich vor und zurück – in den Regionen der Hauptgenres.
Nach ausführlichem Report der aufwendigen Vorarbeiten aber werden zunächst die Familienstämme der Künnekes vorgestellt, rasch wechselt der Fokus dann vom Privaten ins Fachliche. Generell bleiben familiär-private Einblicke oder psychologische Momente aufs Nötigste oder Hypothetische begrenzt, nur mit Vorsicht werden ihre Einflüsse auf künstlerisches Reagieren zur Diskussion gestellt und mit relevanten Quellen abgeglichen. Durch Resümees und Zusammenfassungen erschließt sich sehr transparent die Sonderentwicklung Künnekes im Spannungsfeld von Selbstverwirklichung und Pragmatismus. Werkbetrachtungen verzichten sinnvoll auf Detailanalysen, aufgefächert werden Großstrukturen, zeit- wie gattungsgeschichtliche Zusammenhänge (abzüglich einer Handvoll sachlicher Fehler) und stilistische Stellungen.
So markiert die Etappe „Ausbildung und Studium“, obwohl noch weitgehend operettenabstinent, eine Konstante in Künnekes ästhetischem Ansatz: Nach romantisch-modernen Gehversuchen zur Emmericher Gymnasialzeit vertieft sich der Schüler Max Bruchs an der Königlichen Hochschule Berlin vollends in den Kosmos der romantischen Tonsprachen, strebt zum Theater. Das zeitgenössische Umfeld motiviert zu stilistischen Anleihen, besonders reizt das Experiment mit den Klangwundern des spätromantischen Orchesters. Doch wohlgemerkt: Im Vergleich mit der modernen Speerspitze bleibt Künneke Konservativer.
Auch nach einer „Etablierung als Komponist und Dirigent“ ist noch kein Operetten-Künneke geboren. Vielmehr widmet sich das Kapitel gattungsgeschichtlich prägnant den teils deutschlandweit erfolgreichen komischen Opern Robins Ende und Coeur As und Bühnenmusiken für das Deutsche Theater, thematisiert den Broterwerb durch Dirigierverpflichtungen für die Schallplattenunternehmen Odeon und Favorite-Record neben kurzzeitigem Eigenverlag, deutet schließlich Lied- und programmatische Instrumentalkompositionen mit einem Akzent auf Vorfeld und Kontext des Ersten Weltkrieges.
Stehen die „Operetten-Kompositionen“ quantitätsbedingt zentral, beanspruchen sie gleichwohl nur ein knappes Drittel des 29x21x1,8 cm messenden Buchblocks. Vorstufen bildeten fleißiges Instrumentieren von Kollegen-Operetten und Theatermusik am Friedrich-Wilhelmstädtischen Theater. Mehr Ertrag versprach ein eigenes Debüt im populäreren Genre, erprobt in dem stilistisch zwischen volkstümlicher Oper und Operette schwankenden, doch gewinnträchtigen Dorf ohne Glocke. Vollends als Hauskomponist am Theater am Nollendorfplatz ab 1919 gelingt der entscheidende Durchbruch: kometenhafter Aufstieg der Künneke-Operette mit dem Vetter aus Dingsda, im Schlepptau das leidliche Klischeegeschmäckle. Unbestritten aber traf Künneke hier im Trio mit den Librettisten Direktor Herman Haller und Rideamus alias Fritz Oliven den Nerv der Zeit dank der Melange aus berlinerischer Laune, exotischem Aroma und modernen Rhythmen im Kostüm des spätromantischen Orchestersatzes. Als jedoch der Wind in Richtung Revueoperette wehte, zog der Feingeist Künneke nicht mit. Erfolgsstreben und Geldbedarf für seinen gehobenen Lebensstandard drängten ihn vielmehr nach London, von wo ihn der renommierte Produzent Edward Laurillard nach New York in die Theaterwelt der legendären Shubert-Brüder vermittelte. 1925 zurück in Berlin, war auch hier Konfektionsware gefragt, Ausstattungs- und Revueoperetten hatten fertig auf dem Tisch zu liegen, bevor die Direktoren zuschlugen. Mit Uraufführungen wich Künneke aus in die gehobene Provinz.
Gelang ihm 1929 mit der Tänzerischen Suite das Schlüsselwerk einer gehobenen Rundfunkunterhaltungsmusik auf der Höhe der Zeit, drohte nach dem 1932-er Erfolg Glückliche Reise im Umfeld der Machtergreifung „Operettendämmerung?“ (S. 193), wie eine Kapitelüberschrift andeutet. Weiterhin versucht er sich an der Synthese von Operette und E-Musik, heterogen wirken Komposition und Instrumentation – dies vermutlich auch infolge der substantiellen Mitarbeit des Dirigenten Franz Marszalek. Obwohl durch die Ehe mit der Halbjüdin Katarina Garden „jüdisch versippt“, bleibt Künneke nach 1933 durch höchste ministeriale Order das Exil erspart. Schließlich braucht die NS-Kultur umso mehr Ersatz für die Operette aus jüdischer Feder.
Als weiteres Novum dokumentiert ein Hauptkapitel die von 1918 bis 1950 datierenden Filmmusik-Werke verschiedenster Dramaturgie, Couleur und Stilistik. Insgesamt sieht Müller in der Diversität der Genres wie der musikalischen Mittel vom Tanzschlager bis zur opulenten Opernszene ein weiteres Symptom für Künnekes Grundkonflikt: den Spagat zwischen Ernst und Unterhaltung, gefolgt vom Rückzug gegenüber jüngeren Kollegen vom Schlag Peter Kreuder oder Franz Grothe.
Apropos Rückzug: Finanzielle und gesundheitliche Probleme taten das Ihre. Nicht von ungefähr steht am Ende ein dunkleres Kapitel, das durch Müllers Recherchen indes an Klarheit gewinnt: der eindimensionale Mythos um Künnekes Morphiumsucht. Laut Müllers Auswertung von Krankenakten etwa der Wittenauer Heilstätten Berlin, wo er den Großteil der gerichtlich angeordneten Klinikaufenthalte verbrachte, war es nicht die kolportierte Überdosis Rauschgift, die zum Tode führte. Vielmehr kamen Lungen- und Zuckerkrankheit zu den Folgen seines Medikamentenmissbrauchs, der innere wie äußere Konflikte zur Ursache hatte.
Den Rückzug Künnekes aus dem musikgeschichtlichen Radius kann ein differenziertes Fazit auch nach 1.125 Fußnoten nur spekulativ und mehrschichtig begründen. Der Appell heißt: Wiederentdeckung der Originale! Klingend inspirieren könnte beigelegte Audio-CD mit Müllers Feature „Ich bin kein Operettenkomponist! Der andere Künneke“. Weitere Hilfe naht mit einem angekündigten Werkverzeichnis. Denn: Unpopulär werden dürfte er nie!

Andreas Vollberg
Köln, 28.06.2018

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