R.I.P. Dieter Schnebel (14.03.1930 – 20.05.2018)

 

Dieter Schnebel im Studio (Photo: Carolin Naujocks)

In einem öffentlichen Gespräch Mitte der 1980er Jahre berichtete Dieter Schnebel, dass Heinz-Klaus Metzger, ein Freund seit Jugendtagen, seine alemannische Kantate Jowaegerli als sein katastrophalstes Werk bezeichnet habe. Schnebel ließ ohne jegliche Häme – mit einem listigen Zwinkern in den Augen – offen, ob Metzger das Tragische in Johann Peter Hebels Texten, die apokalyptische Weltsicht, gemeint haben könnte oder Schnebels Musik, die zu der damals aktuellen neuen Musik gänzlich querstand; mit dem Ochsenkarren samt zweier Ochsen auf der Bühne, alemannischen Sprechstimmen und einem Instrumentarium mit Wachtelpfeifen, Windmaschine, Wassermühle und Schotterspiel mutete das Werk vielen Hörern als eine Art ökologischer Volksmusik an.
Gleich mehrere markante Wesenszüge von Schnebels Persönlichkeit offenbart diese kleine Episode: Insbesondere seine Bescheidenheit und unangestrengte Art in der Zusammenarbeit, wie etliche seiner Weggefährten berichten. Diese Bescheidenheit galt in gleichem Maße seiner Einschätzung des eigenen Werkes, dem alles Messianische abging. Wagnersche Überwältigungsstrategien waren ihm gänzlich fremd, das Werk Wagners bewunderte er gleichwohl nicht weniger als die Sinfonien Anton Bruckners und Gustav Mahlers.
Zwischen die Eckpfeiler einer autonomen Kunst und der Transzendenz religiösen Erlebens tritt in Schnebels Werk noch etwas hinzu: das Diesseitige, Lebenszugewandte. In Dieter Schnebels frühem Hauptwerk, den drei Chorstücken Für Stimmen (… missa est) hebt nicht nur der Mensch seine Stimme an zum Lobe Gottes, sondern alle Kreatur, auch Tiere – fauchend, flüsternd, schreiend, wiehernd, lachend. In den bewegten Zeiten um 1968 war dies nicht zuletzt eine lustvolle Provokation. Ihrer Zeit war diese Musik um Lichtjahre voraus: 1956, als Schnebel die Chorstücke konzipierte, war die Kirchenmusik noch fest in der Hand neobarocker Komponisten, die ihre vierstimmigen Sätze maßvoll mit Dissonanzen würzten. Doch Schnebel befreite die vokalen Klänge von aller gepflegten Scholastik und entließ sie in eine ungebärdige, anarchische neue Klangwelt, die in der muffigen Nachkriegszeit geradezu unerhört wirken musste.
Geboren wurde Dieter Schnebel am 14. März 1930 in Lahr im Schwarzwald. 1949 begann er mit dem Musikstudium in Freiburg, hier lernte er die lebenslangen Freunde und Mitstreiter Heinz-Klaus Metzger und (später) Clytus Gottwald kennen. Schon 1950 besuchte er erstmals die „Darmstädter Ferienkurse für neue Musik“ und beteiligte sich als Chorsänger an der Aufführung von Schönbergs Kantate A survivor from Warsaw. Er begegnete dort Hermann Scherchen, Edgard Varèse, Theodor W. Adorno und vielen anderen. Nach der Privatmusiklehrerprüfung 1952 begann Dieter Schnebel in Tübingen ein Studium der Theologie, Philosophie und Musikwissenschaft, das ihn mit der Theologie Karl Barths vertraut machte. Als ebenso wichtig erwies sich die Lektüre der Schriften Adornos, Blochs und Hegels. 1955 promovierte er mit einer Arbeit über Schönbergs Dynamik. Nicht erst in diesen Jahren, auch später noch lange Zeit haderte er mit seiner Berufung, stellte mal die Theologie mal die Musik in den Vordergrund.
Schon in seinen allerersten Kompositionen, die er später gelten ließ, ging es ihm nicht um Aneignung von Vorgefundenen, sondern um dessen Überwindung! Die fünf Stücke für Streichinstrumente aus dem Jahr 1955 verwenden jeden der 12 Töne des chromatischen Total nur einmal, jedoch in einer extrem komplex ausdifferenzierten Weise. Das Wiederholungsverbot der dodekaphonen Musik wird hier wörtlich verstanden. Aber noch mehr: Die vier Instrumente des Streichquartetts sind weit entfernt voneinander im Raum platziert, die Stimmverläufe individualisieren sich. Schnebel war mit diesen utopischen Entwürfen seiner Zeit so weit voraus, dass all jene Frühwerke erst Ende der 1960er Jahre uraufgeführt werden konnten.
Von 1956 bis 1963 nahm sein Pfarrdienst in Kaiserslautern einen derart breiten Raum im täglichen Leben ein, dass die Musik in jenen Jahren an den Rand gedrängt wurde. Dies änderte sich erst 1963 durch den Umzug nach Frankfurt am Main und mit der neuen Tätigkeit als Religionslehrer an einer Schule. Später, ab 1970 in München, arbeitete Schnebel als Musiklehrer an einem Gymnasium. Doch all diese Tätigkeiten, die in erster Linie dem Broterwerb dienten, machte sich Schnebel in seiner Musik produktiv zunutze: Von 1973 an fließen Erfahrungen aus seiner Arbeit mit Jugendlichen in den Werkkomplex Schulmusik ein. Die ganz unambitionierten, den Kunstbegriff eher meidenden Stücke tragen sprechende Titel wie Gesums, Blasmusik oder Stuhlgewitter. Die pädagogische Arbeit hat Schnebel dann später in Berlin, seit 1976, mit Studenten fortgesetzt. Mit den Maulwerkern, einem Ensemble für experimentelle Musik, zusammengesetzt aus Studenten an der damaligen Hochschule der Künste, erarbeitete Schnebel eine Vielzahl von Werken, deren berühmtestes wohl die namensgebenden Maulwerke sind: Statt die menschliche Stimme als Gegebenes vorauszusetzen, dekonstruiert Schnebel den Stimmapparat vom Kehlkopf bis zu den Lippen und komponiert Stimmverläufe aus den einzelnen Körperkomponenten. Statt weihevoller Chorklänge wird der Hörende hier mit einem nie gehörten Reichtum an Klängen von den Rändern des Vokalen belohnt, die zu einem intensiven, unvoreingenommenen Lauschen einladen.
Neben dem Schreiben von Musik hat das Schreiben über Musik im Laufe von Schnebels Leben einen großen Stellenwert eingenommen, wobei bedeutende Texte über Schubert, Schumann und Bruckner, über neue Geistliche Musik, neue Vokalmusik und vieles mehr entstanden sind. Kürzlich wieder neu aufgelegt wurde das lang vergriffene Buch Mo-No. Musik zum Lesen, eine Sammlung musikalischer Grafiken, die den Leser einladen, das Geschaute innerlich zum Tönen zu bringen – ein gewiss utopisches Unterfangen.
Seit Mitte der 1970er Jahre wandte sich Schnebel auch kompositorisch der Musik der Vergangenheit zu. Mit der seinerzeit modischen Postmoderne hatte dies nichts zu tun. Schnebel ging es im Gegenteil darum, im Werkkomplex Tradition das Verschüttete im Vergangenen zu suchen, um es als Potential für das Neue zu nutzen, in den Re-Visionen hingegen, Vergangenes auf sein utopisches Potential hin abzuklopfen. Ernst Blochs Wort von der Unabgeschlossenheit des Vergangenen regte ihn, so Schnebel, dazu an, verschüttete utopische Momente aufzufinden, die es im Gegenwärtigen einzulösen gelte. Im Bach-Contrapunctus I von 1972 etwa verräumlicht Schnebel die Stimmen von Bachs Eingangsstück aus der Kunst der Fuge und überträgt sie auf im Raum wandelnde Singstimmen. Bachs Musik wird so zu einer Musik unserer Zeit.
Der gestische Aspekt des Musikmachens, das Körperliche, interessierte Schnebel von Anfang an. In Werken wie der Visible Music I von 1960/1962 ist die Gestik gar alleiniger Bestandteil des Werkes, Musik erklingt nicht mehr, sondern soll hinzu-imaginiert werden (Schnebel war zu dieser Zeit einer der aktivsten Vertreter der Fluxus-Bewegung in Europa). Später, in den 1970er Jahren führte eine persönliche Lebenskrise zur Beschäftigung mit Psychologie. Thanatos-Eros für eine Frauenstimme, eine Männerstimme und Orchester thematisiert das Werden und Vergehen auf recht anschauliche, drastische Art: der Eros-Teil ist ein auskomponierter Liebesakt und in Thanatos wird aus dem Stöhnen ein Röcheln, den Akt des Sterbens andeutend. Die Überschriften der Abschnitte zeichnen die psychologische Verlaufsform nach: Bedrückungen – Zerrungen – Verbiegungen – Sich-lösen (Trauer) / Begegnungen – Vereinigung – Lösungen.
Schnebel scheute sich nie, geschmackliche Grenzen zu akzeptieren: So nahm er 2003 einen Kompositionsauftrag des „Bundesverband[es] Automatenunternehmer e.V. sowie des Interessenverband[es] der Unterhaltungsautomaten-Aufstellunternehmer und Spielhallenbetreiber aus Anlass ihres 50jährigen Jubiläums“ an, aus dem das Werk Flipper. Kammermusik für Spielautomaten, Darsteller, Instrumente und Tonband hervorging. Keinen geringeren Spaß bot Harley Davidson. Für Trompete (oder Posaune), 9 Motorräder und Synthesizer.
Mitte der 1980er Jahre reifte die Idee, in allen musikalischen Gattungen ein „gültiges“ Werk, quasi ein Hauptwerk zu hinterlassen. Der Dahlemer Messe, die 1988 in der Berliner Jesus-Christus-Kirche uraufgeführt wurde und die dem Gedenken an Martin Niemöller und Dietrich Bonhoeffer, Vertretern der Bekennenden Kirche, sowie Karl Barth, gewidmet ist, folgten noch die Sinfonie X, das Streichquartett Im Raum, die Kantate Ekstasis und die Kammeroper Majakowskis Tod.

Am 20. Mai 2018, einem Pfingstsonntag, ist mit Dieter Schnebel einer der bedeutendsten Vertreter der musikalischen Avantgarde – und einer ihrer letzten Repräsentanten – im Alter von 88 Jahren gestorben. Er hinterlässt seine Frau und zwei Söhne aus erster Ehe. Nach dem Tod seiner ersten Frau war er in zweiter Ehe von 1970 bis zu deren Tod 2014 mit Iris Kaschnitz verheiratet, der Tochter der Dichterin Marie Luise. Und er hinterlässt ein Werk, das es verdient, weiterzuleben und immer wieder neu gehört zu werden.

Rüdiger Albrecht
Berlin, 12.06.2018

Hinweis: Deutschlandfunk Kultur widmet in der Reihe Begegnungen fünf Sendungen Dieter Schnebel. Sie basieren auf Gesprächen, die Carolin Naujocks vor wenigen Monaten, kurz vor seinem Tod, mit Dieter Schnebel geführt hat. Sendetermine sind: 1. Sendung am 30.05.2018; 2. Sendung am 06.06.2018; 3. Sendung am 13.06.2018; 4. Sendung am 20.06.2018; 5. Sendung am 27.06.2018.
Am Dienstag, dem 19. Juni 2018 findet um 10:30 Uhr in der St.-Annen-Kirche, Königin-Luise-Str. 55, 14195 Berlin-Dahlem der Trauergottesdienst mit anschließender  Beisetzung für Dieter Schnebel (1930-2018) statt. Zum Abschied von ihrem Gründer und Lehrer werden die Maulwerker mit einem kleinen musikalischen Beitrag zugegen sein.

 

 

 

 

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