Sträßner, Matthias: Der Dirigent, der nicht mitspielte. Leo Borchard 1899‑1945 – Berlin: Lukas Verlag, 2017. – 529 S.: Abb. (Schriften der Gedenkstätte Deutscher Widerstand, Reihe A: Analysen und Darstellungen ; 9)
ISBN 978-3-86732-272-0 : € 24,90 (geb.; auch als e-Book)
Die wichtigste Erkenntnis, die aus der hier aufgrund neuen Quellenmaterials erzählten Biografie des in Russland geborenen deutschen Dirigenten Leo Borchard und seines Verhaltens unter der Nazi-Diktatur hervorgeht, ist eine faktische Widerlegung jenes Verbal-Radikalismus, der behauptet, als Gegner des Nazi-Regimes hätte man nur emigrieren oder sich umbringen können. Dass es sehr wohl möglich war, im Lande zu bleiben und – sofern man nicht zu den rassisch oder politisch Verfolgten gehörte – geschickt und subversiv seiner künstlerischen Arbeit nachgehen und körperlich ‑ wenn auch nicht seelisch ‑ unbeschädigt überleben konnte, d.h. ohne Opfer zu werden oder sich dazu zu machen, sich zu verweigern, ohne sich mit falschem Stolz das Etikett einer verquasten „inneren Emigration“ anzuheften, belegt das Beispiel Borchard. Das Schlimmste, was Borchard sich durch die relativ kompromisslose Gestaltung seiner Konzertprogramme einhandeln konnte, war das ihn 1937 ereilende, von Goebbels ausgesprochene Auftrittsverbot, das er aber nach einer Phase der Resignation geschickt durch Rundfunkarbeiten, Auslandsgastspiele und später durch Konzerte außerhalb des eigentlichen Reichsgebiets, allerdings in mit Deutschland kollaborierenden oder deutsch-okkupierten Teilen Europas wie in Ungarn, Griechenland und Italien ausgleichen konnte.
Eine zweite mögliche Erkenntnis, die in diesem Buch nicht ausgesprochen wird, sondern geradezu verweigert wird, wäre eine dezidierte Beantwortung der Frage, warum Borchard nach seinem tragischen Tod im Jahr 1945 durch die Schüsse amerikanischer Militärs beim Überqueren einer Sektorengrenze innerhalb der Westsektoren Berlins so schnell vergessen werden konnte, trotz seines während und auch unmittelbar nach der Nazi-Herrschaft so mutigen Lebens und Auftretens. Die Berliner Philharmoniker selbst hatten wohl andere Sorgen und Image-Probleme als sich um das Wachhalten des Gedenkens an ihren widerständigen Dirigenten Borchard zu kümmern. Bewältigung von Entnazifizierungs-Verfahren bei gleichzeitiger Stellung auf die „richtige“ Seite im aufkommenden Kalten Kultur-Krieg war vorderhand wichtiger. Im Besonderen war es eines machtbezogenen Geschichtsbewusstseins nicht angemessen, anderen Orchester-Chefs zu huldigen als solchen Pultlöwen, vor denen man in Ehrfurcht erstarren konnte. Dem gediegenen und feinsinnigen Handwerker Borchard ging das ab, was in der Dirigenten-Mythologie Charisma genannt wird (etwas, das dem von Hitler zelebrierten Gottesgnadentum für bestimmte Künstler ziemlich nahekommt) und worauf die angeblich unentbehrliche Wirkung Furtwänglers, Celibidaches und von Karajans beruhte.
Als heikel in ihrer Kompromissbereitschaft sind Borchards Konzerte im besetzten Athen in den Jahren 1941/42 mit dem Olympia-Orchester und dem Orchester des Athener Konservatoriums anzusehen, bei denen er zwar Werke befreundeter zeitgenössischer griechischer Komponisten aufführen konnte, aber auch als Unterhalter der Wehrmacht agieren musste. Eintragungen von Günther Altenburg (des „Bevollmächtigten des Deutschen Reiches“ im besetzten Griechenland, Mitwissers und Mitverantwortlichen für schwere Kriegsverbrechen und die Deportation von Juden) in Borchards Künstler-Album zeigen, wie nah Borchard dem „äußeren Kreis der Hölle“ (wie Sträßner es ausdrückt) gekommen war. Aufführungen von Beethovens 7. Sinfonie mit dem eingewobenen ungarisch-soldatischen Verbunkos-Tanz wurden in Wehrmachtskonzerten direkt zur militaristischen Erbauung missbraucht, wogegen Borchard sich gar nicht wehren konnte. Ob man diese Stellung jedoch als „Widerstand durch Mitmachen“, wie Furtwängler sein Dirigieren unterm Hakenkreuz schönzureden beliebte, bezeichnen kann, wie Sträßner es parallelisierend für angebracht hält, ist ziemlich fraglich. Auch die Rolle des Kulturattachés Erich Böhinger, der für sich gerne in Anspruch nahm als Vertreter eines sogenannten verborgenen, anderen Deutschlands (im Sinne Stefan Georges) an der Seite Altenburgs nur Gutes gewollt und geleistet zu haben, ist dubioser als sie hier dargestellt wird. Nicht, dass es einen Widerstand von geistesaristokratischer Seite nicht gegeben hätte, aber Mitmachen und gleichzeitig Widerstehen war eine gescheiterte Doppelstrategie, die die politischen Machtverhältnisse, denen man letztlich unterlag, verkannte.
Wegen kürzlich aufgetauchter privater Dokumente seiner Schwester Margarita von Kudriavtzeff und seines Sohnes Leo liest sich das Leben Borchards bezogen auf seine persönlichen intimen Verhältnisse etwas anders als in der ersten Biografie von Sträßner (Berlin 1999). Bisher stand seine Partnerin Ruth Andreas-Friedrich und ihre Darstellung seiner Aktivitäten in der Steglitzer Widerstandsgruppe „Onkel Emil“ in ihren Büchern Der Schattenmann und Schauplatz Berlin im Mittelpunkt, nun rücken auch Maria, jene Frau, die er kurz vor seinem Tod noch heiratete, sowie sein Sohn und seine Schwester mehr in das Gesichtsfeld. Diese Dinge brauchen hier nicht gesondert zu interessieren. Sträßner erzählt die musikpolitischen und privaten Umstände und Ereignisse nüchtern und mit feinem Gespür für die objektiven und subjektiven Situationen, Notlagen und Umschwünge. Die inneren Spannungen und das notgedrungen in sich widersprüchliche Verhalten Borchards zwischen Emigrationswünschen und der Entscheidung, in Deutschland, das ihm nicht Heimat sein konnte, auszuharren und Auswege aus einer ihm aufgezwungen Passivität zu suchen, werden anschaulich geschildert. In diese Übergangszeit fallen Borchards Tätigkeit als Übersetzer von Tschechow sowie das Libretto für das von Blacher vertonte und erst nach 1945 uraufgeführte Oratorium Der Großinquisitor nach Dostojewski.
Sehr aufschlussreich und hochinteressant sind die abgedruckten Konzertprogramme, die Borchard veranstaltete: in Königsberg mit dem Orchester der Ostmarken Rundfunk A. G. vom Oktober 1928 bis Juni 1931, bevor er dann im Oktober vor allem in Berlin aktiv wurde, zunächst beim Orchester der Funkstunde, dann bei den Philharmonikern, vom Januar 1933 bis zu seinem Aufführungsverbot im März 1937, dann in einigen Städten des europäischen Auslands, zunächst noch vor dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs, dann auch danach noch in einigen von der deutschen Wehrmacht besetzten Ländern, besonders in Athen, jeweils mit einheimischen Orchestern, sowie in den Einspielungen für Telefunken mit den Berliner Philharmonikern (1933‑37) und in den Rundfunkaufnahmen für den deutschen Europa-Sender in Hilversum 1943/44. Relativ selten dirigiert Borchard Konzertprogramme nach dem gewöhnlichen Muster: Ouvertüre, Konzert, Sinfonie, sondern in der Hauptsache sind seine Programme unkonventionell kleinteilig, ohne ins Potpourrihafte abzurutschen, mit ca. sechs Programmpunkten, bei denen in sich abgeschlossene charakteristische Orchesterstücke ohne oder mit Solisten die abwechslungs- und zum Teil kontrastreichen Bestandteile bilden. Der Schwerpunkt liegt auf Musik aus Frankreich und Russland sowie anderen slawischen Ländern. Relativ selten begegnet man der kompletten Aufführung einer Beethoven- oder Brahms-Sinfonie. Unter den russischen Komponisten ist zwar Tschaikowsky favorisiert, aber nicht nur mit seinen drei letzten Sinfonien, sondern auch mit seinen Serenaden, Suiten und Sinfonischen Dichtungen. Und mit großer Regelmäßigkeit werden auch Werke von Borodin, Mussorgsky, Rimsky-Korsakow, Glasunow, Rachmaninow und sogar Prokofieff und Strawinsky aufs Programm gesetzt. Gerne und immer wieder erscheinen Dvorak und Smetana (letzterer mit einer nicht zyklischen, sondern in seinen Einzelstücken verstreut dargebotenen Aufführung aller sechs sinfonischen Dichtungen aus dem Zyklus Ma vlast, Meine Heimat), bei Dvorak ist es neben der 9. Sinfonie und dem Violoncellokonzert eine größere Auswahl aus seinen Konzertouvertüren. An Franzosen sind es besonders Saint-Saëns bis hin zu Debussy, Ravel, Roussel und Françaix, die immer wieder von Borchard präsentiert werden. Offensichtlich konnte er sich darauf stützen, dass trotz der nationalsozialistischen Indoktrination und Verabsolutierung der deutschen Musiktradition die von ihm aufgeführte Musik sich bei den Musikern wie beim Publikum einer anhaltenden Sympathie erfreute. Auch mehrere Wiedergaben der 9. Sinfonie von Beethoven ohne den Schlusschor an die Freude (für den wahrlich der Anlass fehlte) sind zu finden. Immer wieder gelang es Borchard, Musik von verpönten, angegriffenen und beschimpften Komponisten, die dem zur Staatsdoktrin erhobenen Spießergeschmack der Nazigrößen nicht entsprach, aufs Programm zu setzen. Darunter waren auch Werke seiner mit ihm befreundeten, mit neuen Tönen aufwartenden Komponisten Boris Blacher und Gottfried von Einem. Werke des aus rassischen Gründen unterdrückten Mendelssohn findet man in Borchards Programmen noch bis ins Jahr 1934 hinein, dann erst wieder als erstes Stück im ersten Konzert nach der Beendigung des Krieges und der Niederschlagung der Nazi-Herrschaft im Berliner Titania-Palast.
Der dokumentarische Teil, bestehend aus Konzertkalender und einem zusammen mit Oliver Wurl erstellten Verzeichnis der verschiedenen Film-, Schallplatten- und Rundfunkaufnahmen, ist sauber gearbeitet und bietet Erstaunliches – abgesehen von winzigen Schnitzern (das Violoncellokonzert von Dvorak steht gewiss nicht in a-Moll und das Christelflein ist gewiss nicht von Beethoven). Die kurze Liste der auf CD erhältlichen Tondokumente macht deutlich, welch ein Desidarat eine repräsentative Borchard-Retrospektive ist und welche Großtat es wäre, sollte sich ein Label finden, das sich dieser Aufgabe annähme. Sträßners Biografie ist ein unmittelbare Einladung und Aufforderung, Borchard auch musikalisch, d.h. erklingend und hörbar zurückzugewinnen.
Peter Sühring
Berlin, 05.06.2018