Wicke, Peter: Rock und Pop. Von Elvis Presley bis Lady Gaga. 2. überarb. und aktual. Aufl. – München: C.H.Beck, 2017. – 128 S. (C.H.Beck Wissen)
ISBN 978-3-406-71529-7 : € 9,95 (kart.; auch als e-book erhältl.)
Wer vor rund zwanzig Jahren bemängelte, dass der kulturwissenschaftliche Diskurs populäre Musik weiträumig aussparte, tat dies mit einer gewissen Berechtigung. Zumindest im deutschsprachigen Raum gab es nur wenige Wissenschaftler, die sich für diesen Gegenstand interessierten. Zu ihnen gehörte Peter Wicke, der sich seit den 1980er Jahren große Verdienste um die Erforschung der Rock- und Popmusik erworben hat und bis 2016 den Lehrstuhl für Theorie und Geschichte der populären Musik an der Berliner Humboldt-Universität innehatte. Es ist somit auch Wicke zu verdanken, dass die akademische Beschäftigung mit der Popmusik längst kein Exotenfach mehr ist und auch außerhalb der Hörsäle Beachtung findet. Dies zeigt alleine die Aufnahme der zweiten Auflage von Wickes Rock- und Pop-Geschichte in die Sachbuchreihe „C.H.Beck Wissen“ des Münchner Verlags (die erste Auflage erschien 2011 ebenfalls bei Beck; s. Rez. auf info-netz-musik). Zwar finden sich in der Rubrik Musik immer noch in großer Überzahl Untersuchungen zu barocken, klassischen und vor allem romantischen Komponisten und deren Werken, doch neben einer den Musicals von Andrew Lloyd Webber gewidmeten Ausgabe hat Wicke mit „Rock und Pop“ einen Fuß in die Tür zum anerkannten Wissenskanon gestellt.
Die besondere Herausforderung ist dabei nicht zu unterschätzen. Während in der Beck-Reihe beispielsweise vier Autoren bemüht werden, um die verschiedenen Gattungen im Werk eines einzelnen Komponisten, Joseph Haydns, zu vermitteln, übertrug man Peter Wicke die Aufgabe, 65 Jahre Popmusikgeschichte auf 128 Seiten zu bündeln. Es gibt gewiss nicht viele Autoren, die diesen Auftrag so überzeugend wie Wicke umgesetzt hätten. Statt einer lexikalischen Komprimierung, in der brühwürfelartig Musiker, Bands, Stile, Querverbindungen, Songs und Alben aufgelistet und miteinander verknüpft werden, hat Peter Wicke unter dem Leitmotiv der Revolution – die vor allem der Rockmusik als Label bis heute angeheftet wird – die großen musikalischen, stilistischen, technischen und wirtschaftlichen Linien herausgearbeitet.
Einem kleinen Paukenschlag kommt es gleich, dass Peter Wicke die Geburtsstunde der populären Musik, den Siegeszug des Rock ‚n‘ Roll in den 1950er Jahren, als weitaus weniger revolutionär darstellt als mitunter angenommen wird. Mögen viele Amerikaner Elvis Presley und seine Musikerkollegen auch als Kulturschock empfunden haben, in musikalischer Hinsicht hatten diese jungen Interpreten viele Vorläufer, die ihnen in aufsehenerregender Weise das Terrain geebnet haben. Genau hier zeigt sich Wickes Meisterschaft, wenn er etwa Presleys Musikalität und Charisma nicht kleinredet, aber zugleich einen sehr detaillierten Blick hinter die Kulissen wirft. Wicke vermittelt ein Gespür für das soziokulturelle Umfeld in den von Musik durchdrungenen Südstaaten der USA, er zeigt die Verbindungslinien von den swingenden Big Bands der 1930er Jahre zu den Rock ‚n‘ Roll-Musikern, erläutert die Mechanismen der Songproduktion und –vermarktung Mitte des 20. Jahrhunderts und zeigt die Bedeutung des technologischen Fortschritts auf. Der Schreibstil ist faktenreich, aber nicht überladen, und immer wieder nimmt der Autor sich Zeit, wie in der Beschreibung der ersten Aufnahmesessions von Elvis Presley, länger an einem Ort zu verweilen.
Ähnlich aufschlussreich behandelt Wicke die folgenden Revolutionen, etwa den britischen Beat, den Progressive Rock der 1960er Jahre oder Subkulturen wie den Punk. Sind diese Kapitel eher von stilistischen Veränderungen getragen, greift der Autor in der zweiten Hälfte des Buches einzelne musikalische Beispiele heraus, um mit ihnen weitere Bereiche zu behandeln, ohne die die Entwicklung und der Erfolg der populären Musik nicht denkbar ist. Das Studio als Musikinstrument gehört hierzu ebenso wie die immer vorhandene, aber oftmals nur unterschwellig wahrgenommene Bedeutung des Sounds. Liest man etwa die Ausführungen über den für den Motown Sound so wichtigen Produzenten Lawrence Horn, wird dem Leser sofort das Erkenntnispotential bewusst und man kann Wicke nur dankbar sein, dass seine Popgeschichte keine Ansammlung von Musikerbiografien geworden ist. Ähnlich aufschlussreich sind die abschließenden Betrachtungen zu wirtschaftlichen Parametern, die von den großen und kleinen Labels bestimmt werden, und von den Möglichkeiten, die die technische Entwicklung etwa durch Digitalisierung und Sampling in den letzten Jahrzehnten gebracht haben.
Peter Wickes Beitrag zur „Wissen“-Reihe von C.H.Beck ist klug, inhaltlich fundiert und sprachlich überzeugend. Seine Ausführungen werden nicht nur von jenen mit Gewinn gelesen werden, die sich bislang wenig mit der Geschichte der populären Musik beschäftigt haben. Auch angehende und langjährige Experten sollten dieses Buch in ihre Handbibliothek mit aufnehmen.
Michael Stapper
München, 11.03.2018