Tina Frühauf: Werner Sander. „Den Frieden endgültig zu festigen“ [Thomas Schinköth]

Frühauf, Tina: Werner Sander. „Den Frieden endgültig zu festigen“. Ein großer Vertreter der jüdischen Musik in der DDR. – Berlin: Hentrich & Hentrich, 2017. – 88 S.: 4 s/w-Abb. (Jüdische Miniaturen ; 213)
ISBN 978-3-95565-237-1 : € 8,90 (kt.)

Werner Sander (1902–1972) hatte maßgebenden Anteil daran, dass Traditionen jüdischer Musik in der DDR überleben konnten. Die Bedingungen waren in der Zeit des „Kalten Krieges“ keineswegs einfach. Ständig musste Sander zwischen verschiedenen Instanzen vermitteln. Wie er dennoch einen wohl einzigartigen Weg künstlerischen Wirkens entwickeln konnte, schildert eindrucksvoll die erste Monografie über den vielseitigen Musiker und Pädagogen. Autorin ist Tina Frühauf, eine ausgewiesene Expertin für jüdische Musik. Ihre grundlegende Studie über Orgel und Orgelmusik in deutsch-jüdischer Kultur und ihr Porträt über Salomon Sulzer fanden große Beachtung.
Mit ihrer Studie über Sander leistet Tina Frühauf Pionierarbeit. Minutiös vollzieht sie den Weg des 1902 Geborenen nach: beginnend in Breslau, wo Sander aufwuchs, studierte, als Dirigent, Lehrer und Kritiker arbeitete, heiratete und schließlich die Deportation seiner Eltern erleben musste, die das KZ nicht überlebten. Im Herbst 1945 floh er mit seiner Frau vor erneuten Anfeindungen in Breslau nach Erfurt und Meiningen und baute sich dort einen Wirkungskreis auf. Ende 1949 bewarb er sich bei der Israelitischen Religionsgemeinde in Leipzig als „Kantor, Lehrer und Chorleiter“ (S. 15). Probeweise übernahm er einen Synagogen-Gottesdienst und wurde sofort angestellt. In den folgenden Jahren entwickelte er sich zunehmend zu einer Instanz – „als eine der wichtigsten religiösen Autoritäten der DDR, als Seelsorger und einziger Kantor in Vollbeschäftigung“ (S. 29).
Diesen keineswegs geradlinigen Weg dokumentiert die Autorin mit aufschlussreichen Fakten, die sie in zahlreichen Archiven und bei Gesprächen mit Zeitzeugen aufgespürt hat. Zugleich beleuchtet sie das komplexe Spannungsfeld von Sanders Wirken, der seine Lebensperspektive auch nach antisemitischen Angriffen auf Juden 1953 bewusst im Osten und nicht im Westen Deutschlands sah. Seine öffentlich artikulierte „Zukunftshoffnung auf eine baldige Zeit ohne Verfolgung, Gewalt, Zwietracht und Krieg unter den Menschen“, aus ureigenen Lebenserfahrungen erwachsen, liest sich heute nach wie vor aktuell. Damals wurde sie in der Presse politisch instrumentalisiert, und allzu leicht ließe sich daraus schließen, dass er „staatstreu“ gewesen sei (S. 27). Die persönlichen Motivationen dürften zweifellos vielschichtiger gewesen sein.
Sanders Arbeit bedeutete eine ständige Gratwanderung zwischen verschiedenen Instanzen. Wiederholt stieß er in seinen Entscheidungen auf Widerstand, zumal innerhalb der jüdischen Gemeinde. So wurde ihm vorgeworfen, seine Gottesdienste seien „nicht mehr traditionsgemäß“ (S. 45). Auch seine inoffiziellen ökumenischen Bestrebungen und seine umfangreiche Konzerttätigkeit mit synagogalen Inhalten führten immer wieder zu Spannungen. Dabei spielte wohl vor allem eine Rolle, dass Sander lieber unabhängig vom Verband der Jüdischen Gemeinden agierte, als sich dessen Entscheidungen unterzuordnen. So stellt Tina Frühauf differenziert dar, wie sich Sander „zwischen allen Stühlen“ bewegte, als er eines seiner wohl liebsten und bedeutendsten Projekte entwickelte – einen eigenen Chor für jüdische Musik. Er probte nicht in den Gemeinderäumen, sondern lud die Sängerinnen und Sänger in seine Wohnung ein. Er mied es, mit dem gesamten Ensemble reguläre Gottesdienste auszugestalten, stellte nur einzelne Mitglieder für liturgische Zwecke und Rundfunkaufzeichnungen zur Verfügung. Zugleich gelang es ihm, den Chor unabhängig von einem staatlichen Träger zu halten, etwa einem Großbetrieb, wie es seinerzeit im „Volkskunstschaffen“ üblich war. So konnte Sander, wie die Autorin treffend resümiert, „den Chor in einem relativ undefinierten Raum“ kultivieren und „ihn auf einem schmalen Grat zwischen den jüdischen Gemeinden und dem öffentlichen Konzertleben“ leiten (S. 50f.).
Es gelang ihm zunächst auch, seine Aktivitäten weitgehend unabhängig von der staatlichen Politik zu entfalten. Dabei kam ihm wohl nicht zuletzt sein guter privater Kontakt zu der langjährigen Leiterin der Konzert- und Gastspieldirektion von Leipzig, Ruth Oelschlegel, zugute. Bald konnten erste Schallplatten produziert werden. Sie waren so erfolgreich, dass sogar Lizenzausgaben im Westen erschienen. So bildete sich, zwischen den Fronten des „Kalten Krieges“, ein weltweit wohl einzigartiger Chor, der bis heute international großes Ansehen genießt. Tina Frühauf widmet dem Leipziger Synagogalchor, wie sich das Ensemble nach einer Phase des Experimentierens schließlich nannte, einen beträchtlichen Teil des Buches, mit vielen spannenden Recherchen.
Wer das Buch zur Hand nimmt, wird es kaum wieder weglegen: Entstanden ist auf reichlich 70 Seiten ein umfassendes, facettenreiches und immer wieder bewegendes Porträt eines außergewöhnlichen Musikers. Der lebendig geschriebene Band wendet sich dabei aber keineswegs nur an Zeitgefährten oder Experten für jüdische Musik. Im Gegenteil: Jeder, der sich für Geschichte interessiert und nicht zuletzt gegenwärtige gesellschaftliche Prozesse wach reflektiert, findet in dem Buch mannigfaltige Anregungen. Interessenten Leipziger Musikgeschichte werden manche bekannte Namen in neuen Zusammenhängen entdecken.

Thomas Schinköth
Leipzig, 22.02.2018

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