Edgar Froese: Tangerine Dream / Force Majeure [Manfred Miersch]

Froese, Edgar: Tangerine Dream / Force Majeure. – Berlin: Eastgate Music & Arts, 2017. – 394 S.: 340 überw. farb. Abb.
ISBN 978-3-00-056524-3 : € 69,90 (Hc)
Auch in englischer Übersetzung erhältl.

Edgar Froese war der Begründer und Chef von Tangerine Dream, er starb im Januar 2015. Seine Band gehört zu den Protagonisten jenes Genres der (in weitestem Sinne) Rock- und Popmusik, das mit „Berliner Schule der elektronischen Musik“ bezeichnet wird. Dies kann als Abgrenzung zu den im Rheinland tätigen „Elektronikern“ betrachtet werden. Tibor Kneif definierte den Unterschied so: „(…) die Berliner huldigen einer neu-romantischen Klangmetaphysik, während die Düsseldorfer einer unpersönlichen und zuweilen witzigen Computer-Musik folgen.“1
Die Computerwelt-Musiker von Kraftwerk, die Klangmetaphysiker von Tangerine Dream und der „Cyborg“ Klaus Schulze (ebenfalls der „Berliner Schule“ zuzurechnen) wurden mit internationalem Erfolg belohnt, so unterschiedlich ihre musikalischen Ausrichtungen auch waren.
Alle drei hatten Ende der 1970er Jahre Probleme infolge des Verlustes eines bis dahin wichtigen Alleinstellungsmerkmales: die Verwendung sehr teurer elektronischer Instrumente aus den USA und England (oder von kleinen spezialisierten deutschen Firmen), die sich sonst kaum ein Musiker jener Zeit leisten konnte. In den späten 70ern begann der kommerzielle Siegeszug von Firmen aus Fernost, die den Markt von da an mit preiswerteren und kompakteren elektronischen Instrumenten dominierten. Die Anzahl gut gemachter Synthesizermusik-Produktionen in Rock-, Pop- und Discomusik wuchs rapide und wurde begleitet von neuen teils spannenden musikalischen Ansätzen.
Die Band Kraftwerk konnte der neuen Konkurrenz ihr cleveres über die Jahre perfektioniertes Menschmaschinen-Konzept als weiterhin zukunftsfähiges Markenzeichen entgegensetzen. Tangerine Dream (TD) besaß bis dahin „unsere eigentliche Trademark, unseren TD-Stil mit Pattern und Sequenzen“ (S. 240), dieses Erkennungsmerkmal war im Kontext jener Stile, die sich ab 1980 entwickelten und die ebenfalls auf Pattern und Sequenzen basierten, nun immer schwerer als TD-typisch wahrnehmbar.
Hinzu kam, dass die „klassische“ Besetzung (Edgar Froese, Chris Franke, Peter Baumann) bröckelte: Froese beschreibt selbst, dass „das verlässliche rhythmische Rückgrat bei TD-Live-Auftritten mit Baumanns Abgang verschwunden war“ (S. 141). Baumann verließ die Band im Herbst 1977. Die Trennung von Christoph Franke wurde, nach einem ersten Versuch im März 1978 (S. 144), dann im August 1987 endgültig vollzogen, „nach mehr als 16 Jahren“ (S. 315). Bereits nach der Trennung von Baumann waren, so Froese, die „Jahre des reinen Experimentierens, der unabsehbaren Zufälle, der bewusst gewählten Authentizität im Scheitern“ nun vorbei (S. 132). Schade, denn das was Froese, Franke und Baumann in ihrer gemeinsamen Zeit produzierten, prägt den Mythos Tangerine Dream bis heute. Nicht umsonst sind auf dem Werbeplakat der filmischen Tangerine Dream Dokumentation, die im Jahr 2017 entstand, genau diese drei Musiker zu sehen (Abb.: S. 198).
Die innovativen, inspirierenden und immer noch faszinierenden Schallplatten, die in dieser Besetzung entstanden, beschrieb Johannes Ullmaier im Magazin „Testcard“2 als „Serie ihrer klassischen Elektronik-Rock-Illusionismus-Psychedelic-Platten vor dem anschließenden, aufgrund der weiteren rockgeschichtlichen Entwicklung fast unausweichlichen Verfall“.
Von „Verfall“ zu sprechen, mag aus subjektiver Sicht verständlich sein, die Geschichte von Tangerine Dream war nach dem Weggang von Baumann und Franke jedoch längst nicht zu Ende. Durch Neuzugänge wie Johannes Schmoelling (ab S. 154) und nach dessen Ausscheiden Paul Haslinger (ab S. 283), wurde eher eine Art Wende eingeleitet: die Abwanderung ins „Filmscoring Business“ (S. 227), mit der die Band ihr „amerikanisches Karriere-Bein aufbauen“ konnte, verbunden mit „immensen Erfolgen“ (S. 231), einer „sehr intensive[n] Karriere als Filmscore-Lieferanten“ (S. 347). Sehr anschaulich wird im Buch beschrieben, wie die finanzielle Freiheit durch den Verlust von künstlerischer Freiheit erkauft werden musste, um den Wünschen der Auftraggeber zu entsprechen. Auf Seite 338 ist gar von „Prostituiertengeschäft“ die Rede. Die Musik von TD war in der öffentlichen Wahrnehmung mittlerweile in einer Kategorie angelangt, die aufgrund ihres esoterisch-illustrativen Charakters bis heute ziemlich kritisch betrachtet wird: es gab eine Grammy-Nominierung in der Sparte „New Age“ (S. 349).
Wer nun meinen würde, dass Edgar Froese gemäß der musikalischen Entwicklung von Tangerine Dream in den letzten Jahrzehnten hier in seiner Autobiografie moderat-sanfte Töne anschlägt und leichtverdauliche Kost serviert, der irrt.
Das Buch ist ein fulminant dargestellter Trip, der den Leser zunehmend atemlos macht. Ohne jede überflüssige Anbiederung und gutmenschliche Lieblichkeit ist es geschrieben wie ein Abenteuerroman und in den besten Momenten so packend und hypnotisierend wie eine gut programmierte Sequenz am Moog Modular Synthesizer-System. Manche Erzählungen aus dem „Zuhälter Business“ der Musikindustrie (S. 334) und seiner „kriminellen Geschäftsstruktur“ (S. 335) sind geradezu unglaublich und haarsträubend.
Dabei trieft das Buch so von ätzendem Sarkasmus, dass man beim Lesen eigentlich eine Schutzbrille und säurefeste Handschuhe tragen müsste. Froese schont niemanden, seine ehemaligen Weggefährten nicht, den Leser schon gar nicht, und sich selbst auch nicht. In den Berichten gibt es manche bittersüße komödienhafte Komponente. Alles ist verfasst „frei Schnauze“ (wie der Berliner sagt) und mit einer gerade in heutiger Zeit äußerst erfrischend wirkenden political uncorrectness. Herrlich!

Zu den Fakten:
Die Seitengröße beträgt im Hochformat ca. 24 x 30cm, d.h. etwas breiter als Din A 4. Die 394 Seiten bieten also weit mehr Lesestoff als ein normalformatiges Buch mit gleichem Umfang. Der Text ist strukturiert durch Dialoge, bzw. zitierte Sätze der Akteure. Da Froese zwar nach eigenem Bekunden ein Tagebuch führte und hin- und wieder auch Filmaufnahmen anfertigte, aber sicher nicht permanent einen Voice Recorder eingeschaltet hatte, um jedes Gespräch mitzuschneiden, ist klar, dass etliche Aussagen nachempfunden sind, bzw. aus der Erinnerung heraus formuliert. Dies wirkt teilweise etwas konstruiert, gibt dem Bericht aber auch mehr Lebendigkeit. Die Erzählung endet ca. im Jahr 2009.
Es gibt 49 Kapitel und ein vorangestelltes Vorwort, das Bianca Froese-Acquaye verfasst hat, Edgar Froeses Lebensgefährtin der letzten Jahre und verantwortlich u.a. für Konzept und Lektorat des Buches, tätig als Managerin von Tangerine Dream und Geschäftsführerin von EASTGATE MUSIC & ARTS, dem Verlag, in dem die Autobiografie erschien.
Der Abbildungsteil ist üppig, man findet dort nicht nur Fotos von vielen der im Buch erwähnten Personen, sondern auch von Leuten, die im Buch nicht erwähnt wurden. Merkwürdig ist lediglich, dass es nur ein einziges kleines Foto von Monika „Monique“ Froese gibt, der im August 2000 verstorbenen ersten Frau Edgar Froeses, die ihm „in sehr vielen Dingen beratend zur Seite stand“ (S. 322), oftmals unterwegs als „TD-Botschafterin in diplomatischer Mission“ (S. 296), verantwortlich als Cover-Gestalterin für fast alle frühen Schallplatten der Band und im Buch auf nahezu jeder Seite im Text präsent (siehe Interview auf YouTube).
Nach dem letzten Kapitel gibt es „Gedanken von Freunden, Kollegen & Fans“ zu lesen (S. 360 ff.), eine Danksagung (S. 384), einen alphabetischen Namens-Index (S. 385 ff.) und einen Bildnachweis.
In einem dem Kapitel-Index vorangestellten Satz heißt es, das Buch erhebe „keinen Anspruch auf Vollständigkeit“. Was fehlt also zum Beispiel oder ist zu kurz geraten?
1) Eine Beschreibung der Herkunft, der Eltern, der frühen Jugend des Autors. Was sonst in kaum einer Autobiografie fehlen darf, sucht man in Force Majeure vergebens. Das Geburtsdatum Edgar Froeses taucht erst auf Seite 31 wie zufällig auf. Beginnen tut das Buch mit einem Besuch des Autors mit Musikerfreunden beim Surrealisten Salvador Dalí.
In Internet-Quellen wird davon berichtet, dass Froeses Vater und einige Verwandte von Nationalsozialisten ermordet wurden. Sollte dies wahr sein, lassen sich Gründe erahnen, wieso dies nicht im Buch steht.
2) Rolf-Ulrich Kaiser und die „IEST“: Kaisers Name taucht weder im Text noch im Index auf, obwohl der legendäre Förderer deutscher Rockmusik der Zeit um 1970 den Musikern von Tangerine Dream eine Auftrittsmöglichkeit bei den „Internationalen Essener Song Tagen (IEST)“ im September 1968 bot, dem in die Geschichte eingegangenen „deutschen Woodstock“. Das mehrtägige erste große deutsche Festival für Rockmusik, Songs, Undergroundkultur und politische Agitation gab der jungen Band die Gelegenheit mehrmals im Kontext prominenter Musiker und Gruppen aufzutreten. Rolf-Ulrich Kaiser war auch der Erste, der die Band auf seinem „OHR“-Label für einige Jahre unter Vertrag nahm. In Froeses Erzählung taucht Kaiser namentlich nicht auf und wird nur einmal kurz anonym als „Label-Chef“ erwähnt (S. 27).
3) Eine der beiden wichtigen Geburtsstätten der „Berliner Schule der elektronischen Musik“ war das Zodiac Free Arts Lab (Zodiak) des ehemaligen TD-Mitglieds Conrad Schnitzler. Zu diesem Ort, an dem die Band ihren Mythos begründen sollte, findet sich nur Marginales im Text, auf gerade einmal eineinhalb Seiten. Wer genaueres wissen will, muss im Kapitel der „Gedanken von Freunden, Kollegen & Fans“ nachschauen, bei Hans-Joachim Roedelius.
4) Die zweite wichtige Geburtsstätte der „Berliner Schule“ war das „Electronic Beat Studio“ des Schweizer Komponisten Thomas Kessler. Edgar Froese erhielt hier nachweisbar einen wichtigen Teil seiner frühen musikalischen Ausbildung. Zum „Beat Studio“ und zu Kessler finden sich im Buch leider nur wenige Sätze, die kaum eine Buchseite füllen (S. 49, nicht Seite 11, wie im Index vermerkt).
5) Reinhard Lakomy, sein Name taucht weder im Text noch im Index auf. Schade, denn nicht nur die Journalisten wollten damals wissen, „wie es uns gelungen war, hier [Anm.: im „Palast der Republik“ in Ostberlin] als Musiker aus Westberlin aufzutreten (…)“ (S. 165).
Der in Ostberlin bekannte und populäre Musiker Reinhard Lakomy hat in seiner eigenen im Jahr 2000 erschienenen Biografie einiges zu berichten3. Dort gibt es auch ein Foto von Froese und Lakomy beim gemeinsamen Spaziergang auf dem Ostberliner Boulevard „Unter den Linden“ und einen Bericht, wie ein teurer Synthesizer aus dem Besitz von TD nach deren Konzert im „Palast“ in Lakomys Auto geladen wurde.4
6) Klaus Schulze war vor seiner internationalen Karriere im Genre der Synthesizer-Musik als Schlagzeuger bei TD tätig. Schulze und Froese, dessen Leidenschaft anfangs vorwiegend dem Gitarrenspiel galt, begannen sich nahezu gleichzeitig der elektronischen Klangerzeugung zuzuwenden. Obwohl der Weg der Beiden fast parallel verlief, ist über Klaus Schulze im Buch nur sehr wenig zu lesen.
Diese Lücken hätten möglicherweise gefüllt werden können, wäre Edgar Froese dazu noch in der Lage gewesen. Abgesehen davon ist das, was Froese zu Papier gebracht hat, in seiner Detailliertheit und Fülle beachtlich, man fragt sich, wie der vielbeschäftigte Musiker mit offensichtlich vollem Terminkalender und Auftragsbuch überhaupt dazu in der Lage war.
Es gibt umfassende Schilderungen der Produktionsumstände von bekannten frühen TD-Schallplatten, es gibt genaue Einblicke in die Praxis und Risiken der Live-Improvisation mit damals eher unzuverlässigem elektronischem Equipment, es gibt ausgiebige Selbstreflexionen (z.B. S. 43 oder S. 312/313), verbunden mit aufschlussreichen Einblicken in die Branche, auch bezüglich der jahrelangen vertraglichen Bindung an das Label „Virgin“. Und: es gibt eine der ausführlichsten Erzählungen zu den Berliner Jahren von David Bowie und Iggy Pop, deren Umstände die Froeses aus nächster Nähe und im Verlauf einer längere Zeit bestehenden Freundschaft unmittelbar mitverfolgen konnten. Die anekdotische Schilderung, wie Angie Bowie die Tür der Privatwohnung der Froeses, in der sich David und Iggy aufhielten, einzubrechen versuchte („mit voller Körperlänge“, S. 82), dürfte vielen Bowie-Fans noch unbekannt sein.
Ab Seite 339 ist eine Hommage an den Fotografen und Musikmanager Jim Rakete zu lesen, „einer der letzten ehrlichen Kerle auf diesem beschissenen Planeten“, wie Froese betont (S. 339). Man ahnt, dass Froese in seinem „an Überraschungen reichen Leben“ (S. 76) schon früh nicht nur Gutes widerfuhr, bzw. dass der sich als Weltbürger verstehende Künstler an den allzu weltlichen Tatsachen einigermaßen litt.
„Nun ist es mit Büchern eine unumstößliche Tatsache, dass sie fast wertlos sind, wenn sie keine anwendbaren Informationen enthalten.“, so der Autor auf Seite 353. Sein eigenes Buch sollte Pflichtlektüre für angehende junge Rock- und Popmusiker sein, um sich gegen die Tricks der auf schnelle Wertabschöpfung ausgerichteten internationalen Konzerne zu wappnen und um als Gruppe ohne interne Querelen im Business bestehen zu können. Da kann man wirklich einiges lernen, auch im Hinblick auf die Force Majeure, jene „höhere Gewalt“, – die unvorhersehbaren, oft unabwendbaren Ereignisse, die im Geschäftsleben und auch privat passieren können. Hier wie dort kann man leicht auf Glatteis ausrutschen…
Im Grunde ist das vom Verlag gewählte Großformat sinnbildlich gesprochen noch zu klein für die außerordentliche Geschichte, die Edgar Froese hinterließ. Auf Seite 151 zitiert Froese den berühmten englischen Schriftsteller Joseph Conrad mit Worten, die auch als Fazit der vorliegenden Autobiografie gelten könnten: „Ich glaubte, es wäre ein Abenteuer, aber in Wirklichkeit war es das Leben.“

Manfred Miersch
Berlin, 18.02.2018

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1 Kneif, Tibor: Rockmusik. – Hamburg: Rowohlt, 1982/1987, S. 329
2 Büsser, Martin; Kleinhenz, Jochen; Schütze, Frank; Ullmaier, Johannes: Testcard #2. – Oppenheim: Testcard-Verlag, 1996, S. 208
3 Lakomy, Reinhard: Es war doch nicht das letzte Mal. – Berlin: Das Neue Berlin, 2000.
4 ebd., S. 210

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