Feiern – Singen – Schunkeln. Karnevalsaufführungen vom Mittelalter bis heute [Andreas Vollberg]

Feiern – Singen – Schunkeln. Karnevalsaufführungen vom Mittelalter bis heute / Hrsg. von Maren Butte, Dominic Larue, Anno Mungen. – Würzburg: Königshausen & Neumann, 2017. – 310 S.: s/w-Abb., Notenbsp. (Musik – Kultur – Geschichte ; 9)
ISBN 978-3-8260-6205-6 : € 44,00 (kart.)

Er ist der Paradiesvogel im Festkalender, manisch herbeigesehnt oder miesepetrig verachtet: der Karneval. Und wo liegt das Paradiesische? Weltweit reißt ihm nach ehernem kirchlichem Ritus der Aschermittwoch gnadenlos die Clownsmaske vom Gesicht. Umgekehrt ist er vielgesichtig über räumliche und zeitliche Nischen hinweg vernetzt. Heutigen Kulturwissenschaftlern dämmert die Erkenntnis: Unverständlich lange haben ihre hochkulturell orientierten Disziplinen diese spezielle und zugleich ungemein ergiebige Melange aus Volksbelustigung, Narretei, Musik, Theatralität und Lokalspezifischem ignoriert. Doch Abhilfe naht: der performative Ansatz mit seinem Fokus auf allen Aspekten des Tuns rund ums Werk, seine Aufführung, Umsetzung und Wahrnehmung. Von dieser Maxime inspiriert, gab ein interdisziplinär und international besetztes Symposium in der Hochschule für Musik und Tanz Köln ab dem Elften im Elften 2011 (!) mit akribischer Expertise dem Karneval die musik- und nachbarwissenschaftliche Ehre.
Gut eineinhalb Dutzend Sachbeiträge versammelt nun der von Maren Butte, Dominic Larue und Anno Mungen edierte Symposiumsband. Mit dem untersuchten Zeitrahmen vom Mittelalter bis zur Gegenwart korrespondiert der vom Performativen bestimmte Blickwinkel: das musikalisch-theatralische Phänomen Karneval definiert sich durch Partizipation im Sinne einer durchlässigen Trennung von Darbietenden und Publikum sowie durch medial vermittelte Rezeption.
Ein historisch und geographisch weit gespannter Bogen in den engen Grenzen eines Sammelbandes erzwingt naturgemäß den Mut zur Lücke. Doch wird es keinen multikulturell interessierten Leser verbittern, wenn das Epizentrum in der Fastelovends-Hochburg Köln wurzelt, andererseits nach akademischer Sitte auch die Hochkultur, hier via Oper, mit ins Boot kommt. Das eigentlich Neuartige liegt hierbei nicht allein in den laut Werbetext genutzten Fragestellungen der Sozial- und Kulturgeschichte bis hin zu Aufführungstheorie und Gender Studies. Mehr noch gerecht wird dem Gegenstand in seinen idiomatischen Besonderheiten eine Art der „positiven Differentialdiagnose“: Theoretische Modelle und Analysekonzepte zu Wirkmechanismen von Theatralität, kultureller Aneignung oder identitätsstiftenden Diskursen konkretisieren sich individuell im Licht des Fallbeispiels.
Mit diesem arbeiten gleichwohl auch die fachübergreifenden interdisziplinären Betrachtungen zu Beginn. Das Schema eines chronologischen Überblicks sublimiert Gunther Hirschfelder, indem er aus Sicht der Vergleichenden Kulturwissenschaft die Transformationen von Erscheinungsbildern und sozialen Trägern reflektiert. Pointe: Datum und Anlass überdauern die Epochen, Funktionen und Praktiken leben am Puls der Zeit – von der religiös legalisierten Ausschweifung vor der Askese im mittelalterlichen Weltbild über romantisch-verklärende Traditionsbildungen bis zur marktbeherrschten Eventkultur. Ein heterogenes Theatralitätsgefüge (grob: mit originärem und spontanem Theater) konstatiert Matthias Warstat u.a. anhand eines einschlägigen Modells nach Rudolf Münz. Und Richard Mailänder sieht „durchaus die Möglichkeit, den Karneval theologisch aus dem Gegensatz von Gut und Böse, der Civitas Dei und der civitas Diaboli, abzuleiten“, hält die Ursprünge heute trotz harmonischen Einvernehmens zwischen Kirche und Karneval „nur noch von fern erahnbar.“ (S. 64) Von Todes- und Jenseitsvorstellungen im Liedgut schließt der Kölner Psychologe Wolfgang Oelsner erwartungsgemäß kompetent auf eine antidepressive, tabubrechende Ventilfunktion. Was Oelsner als anthropologische Konstante beobachtet, bestätigt sich leitthematisch in den folgenden Einzelstudien zu Formaten, Musikpraxen und Opernthemen: Terminierter Exzess enthält zugleich auch sein Reglement und seine Suspendierung. Obrigkeiten lehren, dass verkehrte Welt und Entgrenzung dauerhaft kein Heil bringt, und okkupieren den Karneval für Zwecke der Macht- und Selbstrepräsentation. Bisweilen verlagern einige der minutiös recherchierten, faktenreichen und quellenexegetisch sensibel angelegten Spezialstudien den Akzent vom Karneval auf den Referenzaspekt (u.a. Rolle des Tanzes in spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Fastnachtsbräuchen, Musiktheater im Karneval Roms und Venedigs, die brasilianische Choro-Komponistin Chiquinha Gonzaga im Spannungsfeld kulturpolitischer und ethnosoziologischer Prozesse).
Eine rheinische Vorbelastung zugestanden, erfreuen den Rezensenten an erster Stelle die hier nur auswahlweise zu würdigenden Pionierarbeiten mit Köln-Zentrierung. Diskurstheoretisch begründet, etwa demonstriert Dominic Larue, wie eine karnevalistisch kreierte Kölner Identität aufs regionale Umfeld überschwappt. Ihm ähnlich tut es Astrid Reimers mit dem Fazit einer Vorbildfunktion des Kölner Karnevals für bundesdeutsche Partykultur. Exzellent: Günther Nolls Befunde zu den Funktionen von Lied und Singen. Kulturtheoretische Konzepte stehen Pate auch für die Interpretation zweier stadtkölnischer Eigengewächse: das Divertissementchen des Männer-Gesang-Vereins (Anno Mungen), die Vereinshymnen der „Kölner Stämme“ (Anja Dreschke).
Dennoch: Quer durch den Band zieht sich der Verweis auf offene Fragen – weiße Flecken im Gefieder des Paradiesvogels Karneval, die der Nachkolorierung harren.

Andreas Vollberg
Köln, 21.05.2017

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