Heinemann, Michael: Claudio Monteverdi. Die Entdeckung der Leidenschaft – Mainz: Schott, 2017. – 175 S.: Abb., Notenbsp.
ISBN 978-3-7957-1213-6 : € 24,50 (geb.)
Das Buch von Michael Heinemann (Musikwissenschaftler in Dresden und ausgewiesener Spezialist für die Musik des 17. Jahrhunderts) über Claudio Monteverdi, dessen Geburtstag sich am 15. Mai dieses Jahres zum 450. Mal jährt, ist keine Biografie und will es auch nicht sein. Dennoch dient eine dem Buch angehängte erzählende Chronik, die sich vom Geburtsjahr 1567 bis zum Todesjahr 1643 spannt, in präziser und ausreichender Weise zur Information über die Stationen von Monteverdis Leben und Werk. Hinweise und Andeutungen im Haupttext auf biografische Umstände können hier nachgeschlagen und -gelesen werden. Dies ermöglicht es dem Autor, sich in den vorangehenden Kapiteln dieser Monografie ganz auf eine Darstellung, Beschreibung und Interpretation von Monteverdis Musik zu konzentrieren, manchmal im Stil freier Reflexionen. An der nach Jahreszahlen geordneten Erzählung fällt allerdings auf, wie unsicher, bedroht und mit Selbstbehauptungskämpfen verbunden das Leben dieses musikalischen Ketzers war.
Die Abbildung auf dem Umschlag lässt zunächst stutzen: Orpheus mit einer Fidel im Arm, friedlich Tiere um sich scharend? Leider wird der geistig verwirrte Maler im Buch nicht nachgewiesen und man fragt sich, wer für diese schräge Allegorie verantwortlich zeichnet. Es geht einem hier wie bei jenen häufigen Abbildungen der Heiligen Cäcilia, die an einer Orgel sitzend und umgeben von instrumental musizierenden Engeln dargestellt wird, obwohl sie doch einst gegen die in der Spätantike noch heidnische Orgel ansang. War es nicht Orpheus’ Gesang gewesen, der die Steine erweichte und die Tiere zähmte? Das erste Kapitel von Heinemanns Buch heißt dann aber Ich singe, also bin ich und beschwört einen Weltentwurf des Sängers Orpheus herauf, den Monteverdi ihm mit seinem Gesang beim Eintritt in die Unterwelt in den Mund gelegt hat. Orfeo und Ulysses (Orpheus und Odysseus) werden als diejenigen Sujets und Figuren vergegenwärtigt, die in der musikalischen Exponierung durch Monteverdi das moderne Individuum der Neuzeit verkörpern, das zu sich selbst findet und sich seiner vergewissert. Sie waren für Monteverdi antike Kronzeugen seiner eigenen gewagten Position.
Man spürt beim Lesen allenthalben den versierten Musiktheoretiker, der in dem Autor steckt, und man spürt das Bemühen, jenseits eines virtuos beherrschten Fachjargons unmittelbar verständlich zu schreiben. Dazu entwickelt Heinemann eine ganze Reihe von Techniken der Musikbeschreibung, die geeignet sind, den epochalen Bruch, den Monteverdi mit seiner Verabschiedung des althergebrachten strengen Tonsatzes (der prima pratica) bewirkte, zu verdeutlichen. Was es heißt, Regeln zu verletzen, um einen sprachnahen musikalischen Ausdruck (Monteverdis seconda pratica) zu erzielen, wird an unzähligen Beispielen sinnfällig erläutert. Die Übergänge vom mehrstimmig gebundenen Madrigal zur freien Deklamation des begleiteten Sologesangs und zu dessen szenischer Einbindung in den ersten von Monteverdi musikdramatisch bearbeiteten Opernstoffen sowie die ersten Elemente des konzertierenden Stils werden als eine Entwicklung geschildert, welche eine Überwindung der kontrapunktischen Verbote unausweichlich machte und den eigentlichen Schritt in eine musikalische Moderne darstellte, in der es viele neue Möglichkeiten und Gebote gab.
Nicht nur ungewöhnliche Intervallschritte und Akkordfolgen, auch rhythmische Variabilität und vor allem die 300 Jahre vor Schönberg forcierte Emanzipation der Dissonanz waren die neuartigen Mittel Monteverdis, die Heinemann an Notenbeispielen exemplarisch erläutert. Dass Monteverdi damit nicht nur spektakulär neue Kompositionsweisen einführte und geschickt gegen die bedrohlich mächtigen Scholastiker verteidigte sondern auch Kunstwerke von bezwingender sprachlich-musikalischer Kohärenz, Konsequenz und Schönheit schuf, kann Heinemann an den von ihm besprochenen Hauptwerken: den die Gattung abschließenden Madrigalbüchern, den die Gattung begründenden Opern und der Marienvesper, in der alte und neue Techniken und Musizierweisen synthetisch vereinigt sind, darstellen und rühmen. Dass diese neuen musikalischen Mittel von Monteverdi nicht zufällig in einer historischen Phase entwickelt wurden, in der die mittelalterlichen Tongeschlechter (Modi oder Kirchentonarten) endgültig von den ausgelesenen zwei Tongeschlechtern Dur und Moll verdrängt wurden, wäre ein Zusammenhang, den der Autor noch etwas mehr hätte betonen können. Obwohl Heinemann nur wenige musikalische Fachkenntnisse stillschweigend voraussetzt, wäre ein erläuterndes Glossar für die auch von Monteverdi und seinen musiktheoretischen Gegnern gebrauchten Termini nützlich gewesen.
Bevor Monteverdis Einstellung: Zuerst die Worte, dann die Musik! allmählich von der Erkenntnis verdrängt wurde, dass es auch musikimmanente dramatische Elemente gibt, die der Worte nicht mehr bedürfen, suchte er in der Dichtung seiner Zeit die leidenschaftlichsten Texte, um seiner revolutionären expressiven Tonkunst zum Durchbruch zu verhelfen. In Monteverdis Behandlung der Instrumente deutete sich allerdings schon das Fortschreiten zur autonomen Musik an.
Wahrscheinlich ist es sein Bestreben, unmittelbar verständlich und pointiert zu schreiben und komplizierte längere Sätze zu vermeiden, das Heinemann in das andere Extrem verfallen lässt und seinem Schreibstil eine manierierte Note verleiht. Er ist ein Liebhaber von Halb-, Rumpf- oder Ein-Wort-Sätzen, die auf andere Weise das Lesen erschweren und ins Stolpern bringen. Hier hätte das Lektorat des Verlages energischer eingreifen sollen. Unbedingt.
Der Rezensent muss es nebenbei natürlich bedauern, dass die von ihm publik gemachte kleine Sensation der durch unerhörte Unabhängigkeit und Freigeistigkeit auffallenden Monteverdi-Vorlesungen des Straßburger Musikprofessors Gustav Jacobsthal aus dem Jahr 1903 nicht in die kurze Darstellung der Forschungsgeschichte zu Monteverdi aufgenommen wurden (ein Umstand, den das Buch von Heinemann mit der zur gleichen Zeit auf dem Markt erschienenen Monteverdi-Biografie von Silke Leopold teilt) – sollten sie vielleicht doch nicht so bedeutend sein, wie ihr Editor wähnt oder mahlen die Mühlen der forschungskritischen Rezeption einfach so langsam?
In Heinemanns in gediegen klassischem Buchdruck hergestellter Monografie, die zudem eine reiche Auswahl aussagekräftiger Abbildungen (Porträts, Städteansichten und Notendrucke) enthält, haben wir eine zeitgemäße, äußerst lesenswerte, intensiv argumentierende Würdigung eines fast exterritorialen Musikers, der zwischen weltlicher und kirchlicher obrigkeitlicher Fremdbestimmung und souveräner Selbstbestimmung eine historische Gratwanderung unternahm, die vor allem der Nachwelt enorme musikalische Horizonte eröffnete.
Peter Sühring
Bornheim, 09.05.2017