Thomas Ulrich: Stockhausens Zyklus LICHT. Ein Opernführer [Markus Bandur]

Ulrich, Thomas: Stockhausens Zyklus LICHT. Ein Opernführer. – Köln [u.a.]: Böhlau, 2017. – 481 S.: farb.und s/w-Abb., Bibliographie
ISBN 978-3-412-50577-6 : € 50,00 (geb.)

Karlheinz Stockhausen imposanter Opernzyklus LICHT. Die sieben Tage der Woche (1977–2003) gehört schon seit längerer Zeit nicht mehr zu den vernachlässigten Werken der Gegenwart, geschweige denn zu den „Geheimtipps“ der zeitgenössischen Musik. Wenn auch die nach den Wochentagen benannten Opernabende nur selten als Ganze zu hören sind und die Mehrzahl der Opern nach ihrer Uraufführung keine weitere Premiere erleben durften – ein rühmliche Ausnahme bildete die Produktion des DONNERSTAG 2016 in Basel –, sind doch die einst abschätzigen Urteile, die in Stockhausens Vorhaben lediglich eine Art privatmythologischer oder esoterisch grundierter Monomanie sahen, zurückgetreten gegenüber einer zunehmend ausgewogeneren Bewertung, die auch die Technik der multiformalen Komposition als ein faszinierendes Verfahren zur Schaffung hochkomplexer Zusammenhänge in einem annähernd 29 Stunden dauernden Werk zu würdigen beginnt. Entsprechend nehmen auch die teil-szenischen Aufführungen von einzelnen Opernbestandteilen oder die quasi-konzertanten, sukzessiven Realisierungen ganzer Opern zu.
Wer sich heute noch immer von der Aufregung um das ominöse und aus dem Kontext gerissene Zitat Stockhausens auf der Hamburger Presskonferenz nach den Terroranschlägen in New York beeindrucken lässt, das den Terrorakt als luziferischen Plan und als größtes Kunstwerk zugleich zu bewerten schien, riskiert, sich einer einzigartigen ästhetischen Erfahrung zu berauben. Bislang war dabei allerdings die Möglichkeit beschränkt, sich schon im Vorfeld von Aufführungen mit den Inhalten des Werks zu befassen. Selbst wenn die Gattung der traditionellen Opernführer wie insbesondere Ulrich Schreibers verdienstvolles Werk Die Kunst der Oper sich mit LICHT schon 2005 auseinandersetzte, blieb doch dort die Auseinandersetzung oberflächlich und musste sich angesichts der inhaltlichen Komplexität mit einer Nacherzählung der Vorgänge auf der Bühne begnügen. Tiefer schürfende Literatur von Stockhausen-Spezialisten vernachlässigten häufig die inhaltlichen Dimensionen zugunsten einer detaillierten Auseinandersetzung mit den musikalischen Aspekten (wie beispielsweise Rudolf Frisius in Karlheinz Stockhausen, Bd. 3: Die Werkzyklen 1977–2007, Mainz 2013) oder arbeiteten sich eher assoziativ – und meist stark beeinflusst von Stockhausens eigenen Veröffentlichungen zu LICHT – an den diversen Symbolebenen ab (wie etwa Robin Maconie, Other Planets. The Music of Karlheinz Stockhausen, Lanham, Toronto, Oxford 2005, aktual. Vers. 2016). Hinzukommt, dass eine – in diesem Zusammenhang unumgängliche – Auseinandersetzung mit dem Urantia-Buch immer noch vielen Stockhausen-Forschern unangenehm ist, obwohl dessen Einfluß auf LICHT weder ein Geheimnis noch sonderlich ominös ist (Ulrichs Position ist diesbezüglich zwar ebenfalls ein gewisses Unbehagen anzumerken; seine zutreffende Auffassung, dass Stockhausen am Urantia-Buch die radikale Aktualisierung der religiösen Überlieferung faszinierte, insbesondere die – mehr oder weniger gelungene – Vermittlung von moderner Naturwissenschaft und kirchlicher Erzählung, entschärft das Problem des Umgangs mit diesem Buch jedoch beträchtlich).
Wie nun der inhaltliche Aufriß des Zyklus mit den Protagonisten Michael, Eva und Luzifer sowie die sieben thematisch an die Wortbedeutungen der Wochentagsbezeichnungen angelehnten Opernteile MONTAG bis SONNTAG genau zu verstehen sind, zeigt Ulrichs Buch, das im Untertitel das bildungsbürgerlich besetzte Wort Opernführer bewußt nicht scheut. Es ist nicht ohne Reiz, dass gerade ein evangelischer Theologe wie er sich mit dem Werk eines so erz- wie postkatholischen Komponisten auseinandersetzt. Verständlicherweise liegt der Fokus des Autors auf dem, was man traditionell Libretto nennt, das sich aber in LICHT weit von den üblichen narrativen Mustern der Operngeschichte gelöst hat. Denn wenn man von einer Art Handlung ausgehen möchte, so muss man sie wohl „ausserhalb“ des Werks (als gleichsam nicht erzählte, aber von Stockhausen wohl vorausgesetzte Rahmenhandlung; vgl. etwa Texte…, Bd. 6, S. 153 und 212) ansetzen, da die Inhalte der Opernabende nur eine Vielzahl von inhaltlichen Darstellungsformen ausprägen, die aber keineswegs linear angelegt oder auf eine geschlossene Form hin ausgerichtet sind. Zusammen mit den zahlreichen semantischen Ebenen, die zahlreiche religiöse Traditionen, Zahlenmystik, Alchemie und andere Formen des symbolischen Denkens aufgreifen, sieht sich ein solcher LICHT-Opernführer herausgefordert, ausgehend von den immer auch in das musikalische Denken reichenden inhaltlichen Schichten eine Art von erzählerischer Schlüssigkeit herzustellen, die systematische Offenheit von Stockhausens musikalischem Theater in eine definierte Gestalt zu übersetzen, mit der der Hörer des Werks Zugang zu den Vorgängen auf der Bühne bekommt. Thomas Ulrich ist das gelungen – sein „Opernführer“ dürfte gegenwärtig und auch auf längere Zeit die beste Einführung in die LICHT-Thematik darstellen. Nach einem einleitenden Kapitel, das grundsätzliche Informationen zum Zyklus vermittelt, werden die einzelnen Opernteile gemäß ihrer Entstehungsreihenfolge behandelt. Dies hat den Vorteil, dass bei entsprechender Lektüre die im Laufe der langen Entstehungszeit eintretenden inhaltlichen Weiterentwicklungen dem Leser auch in der entsprechenden Abfolge vermittelt werden.
Doch so ansprechend eine derartige Handreichung zu den inhaltlichen Aspekte von Stockhausens Hauptwerk auch ist, stellt sich – und das ist weniger als Kritik denn als Frage gemeint –, das Problem, ob Stockhausen mit LICHT nicht bewußt eine derart offene, vieldeutige und eben unabgeschlossene wie unabschließbare Form gewählt hat, nicht nur, um kompositorisch weitaus flexibler auf die unabsehbaren Herausforderungen in einem 25 Jahre währenden Arbeitsprozess reagieren zu können. Ungeachtet der Beantwortung dieser Frage bleibt festzuhalten, dass diesem Buch viele Leser zu wünschen sind; zu hoffen wäre, dass auch diejenigen Opernliebhaber darunter sind, die bislang vor LICHT zurückgeschreckt sind. Schließlich liegt nun eine inhaltlich souveräne Auseinandersetzung mit diesem komplexen Werk vor, die zahlreiche Hürden des Verstehens beseitigt und den ganzen Reichtum aufzeigt, der in Stockhausens Opus magnum enthalten ist.
Inhaltsverzeichnis

Markus Bandur
Berlin, 23.03.2017

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