Magdalena Zorn: Stockhausen unterwegs zu Wagner [Rüdiger Albrecht]

Zorn, Magdalena: Stockhausen unterwegs zu Wagner – Hofheim: Wolke, 2016. – 356 S.: Abb.
ISBN 978-3-95593-065-3 : € 44,00 (geb.)

Über Karlheinz Stockhausen zu schreiben erfordert Vorentscheidungen zu treffen hinsichtlich des zu behandelnden Gegenstandes: Soll das autonome musikalische Werk im Blickfeld stehen oder all das, was der Komponist ihm mit auf den Weg gegeben hat?
Stockhausen war, Richard Wagner vergleichbar, ein Komponist, der neben seinem musikalischen Schaffen ein umfangreiches schriftstellerisches Werk hinterlassen hat, welches derzeit in 17 Textbänden vorliegt. Zu diesen autorisierten Texten kommen noch unzählige Interviews, Stellungnahmen, Briefe, Rundfunksendungen und andere Quellen. Die Hauptaufgabe der schriftstellerischen Tätigkeit war (für Stockhausen wie für Wagner) die Wahrung der Deutungshoheit des nicht nur musikalischen Gehaltes der Werke. Schon für seine frühesten Kompositionen verfasste Stockhausen Radiovorträge und Einführungstexte, die nicht nur das jeweilige Werk erläuterten, sondern ihm auch gleich einen eigens geschaffenen Platz in der Musikgeschichte zuschrieben. Ebenso wie Wagner wollte Stockhausen die Verortung seines Schaffens nicht dem (rückblickenden) Historiker überlassen, sondern die maßgeblichen Pflöcke gleich selbst einschlagen.
Auf der aufführungspraktischen Seite suchte Stockhausen mit einem Stamm von Interpretinnen und Interpreten die Bildung einer Aufführungstradition zu etablieren, die, so seine größte Sorge, auch nach seinem Tod Bestand haben sollte. Hierzu diente in seinen letzten Lebensjahren die Durchführung der „Stockhausen-Kurse Kürten“, wo die Interpretation der eigenen Werke unter seiner Aufsicht und der von ihm autorisierten Lehrer an junge Musiker weitergetragen wurde.
Aber nicht nur der aufführungspraktischen Realisation wie auch der historischen Sicht auf sein Werk galt seine Sorge: Größte Bedeutung maß Stockhausen der Rezeption, genauer dem hörenden Verständnis seiner Musik bei (ganz im Gegensatz etwa zu seinem Zeitgenossen Iannis Xenakis). Schon 1955 schrieb er die Radiosendung Gruppenkomposition: Klavierstück I (Anleitung zum Hören). Ihr folgten etliche Hör-Anleitungen, die im Falle des Vortrag über HU, einer gesungenen Einleitung in das szenische Orchesterstück Inori sogar in den Werkstatus erhoben wurde. Und im Spätwerk finden sich nicht wenige Stellen, in denen das Bezeichnete und das zu Bezeichnende eins werden: Wenn beispielsweise das gerade zu hörende (von Stockhausen so genannte) Formelglied vom Vokalsolisten gesungen wird, also Bestandteil des Tonsatzes ist, erläutert die Musik sich quasi selbst.
Die Sekundärliteratur über Stockhausen ist nicht erst in den Jahren nach seinem Tod im Jahre 2007 enorm angewachsen. Rein musikalische Werkanalysen findet man erstaunlich selten, die Vorgaben des Komponisten scheinen einem offenen Zugang zu den Werken im Wege zu stehen. Zahlreiche Schriften umkreisen den Schöpfer-/Schöpfungsmythos, demzufolge Stockhausens Werk, das seinen Ausgang exakt an einem Epochenbruch nimmt (in der Literatur als „point zéro“ bekannt), mehr oder weniger voraussetzungslos wie ein Phönix aus der Asche hervortritt. Genau hier setzt die überaus gründliche und profunde Arbeit von Magdalena Zorn an. Sie bringt, in vielen Fällen zum ersten Mal, die Quellen ans Licht, die nicht nur zu Stockhausens ersten Werken führten, sondern das gesamte Werk und das musikalische Denken Stockhausens prägen. Die Autorin rückt so den „Schöpfungsmythos“ auf eine solide Basis. Magdalena Zorn gelingt es, die musikalischen, literarischen und geistesgeschichtlichen Prägungen des jungen Stockhausen bis tief in das 19. Jahrhundert zu verfolgen, um daraus ihre Hauptthese zu bilden, die Richard Wagners späte Musikdramen, namentlich Tristan und Isolde und Parsifal, als subkutan wirkenden Ausgangspunkt für Stockhausen eigenes Schaffen identifiziert. Diese erstaunliche These hat nichts mit den rein äußerlichen Analogien zu tun, die etliche Rezensenten zwischen dem Umfang von Wagners Ring des Nibelungen und Stockhausens LICHT-Heptalogie zogen. Verblüfft nimmt man hingegen zur Kenntnis, dass die Quellen, aus denen der junge Stockhausen schöpfte, lebenslange Gültigkeit behielten.
Die Autorin entwickelt das hochkomplexe Geflecht in drei von ihr so genannten Analysekomplexen. Im ersten Teil wird das faustische Scheitern des Adrian Leverkühn in Thomas Manns Roman Doktor Faustus dem Glasperlenspieler Josef Knecht in Hermann Hesses Glasperlenspiel gegenübergestellt. Magdalena Zorn zeigt auf, wie Stockhausen diese beiden Gegenpole sich anverwandelt. In einem zweiten Teil stehen die zwei Kompositionslehrer des jungen Stockhausen, Frank Martin und Olivier Messiaen im Mittelpunkt. Ihre tiefreichenden Einflüsse weist die Autorin überzeugend nach, was insofern überrascht, als Frank Martin in den Schriften Stockhausens so gut wie keine Rolle spielt und in den späteren Äußerungen Stockhausens eine eher kritische Sicht auf Messiaen überwiegt. Ein kurzer, dritter Teil zeigt die Bedeutung und den Kontext der „Akusmatik“ (live gespielter versus von Band eingespielter, unsichtbarer Musik) speziell in den Chorpartien der Opern auf.
Die unterschiedlichen Gedankenstränge führen alle auf die Hauptfährte des Buches; die spiralförmigen Verschlingungen und Verflechtungen greifen damit das im Buch zentrale Prinzip der Spirale als Gestaltungselement auf. Magdalena Zorn entwickelt ihre Thesen aus den Quellen, Stockhausens Schriften stehen somit folgerichtig nicht an erster Stelle. Musikalische Partituranalysen sind (der Fragestellung der Arbeit gemäß) eher selten, führen aber immer wieder zu neuen Erkenntnissen, wie beispielsweise in den Betrachtungen zu dem Orchesterwerk Trans.
Das Buch, durchaus nicht leicht zu lesen, entstand als Dissertation und wurde betreut von Wolfgang Rathert an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Die Arbeit ist ein großer Gewinn – man darf ruhig sagen, ein Meilenstein – für die Stockhausen-Forschung, nicht nur, weil sie eine bislang nicht beachtete, statt dessen ignorierte Sicht auf das Werk entschlüsselt.
Inhaltsverzeichnis

Rüdiger Albrecht
Berlin, 21.05.2016

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