Schenk, Dietmar: Als Berlin leuchtete. Kunst und Leben in den Zwanziger Jahren. ‑ Stuttgart: Steiner, 2015. – 264 S.
ISBN 978-3-515-11073-0 : € 49,00 (geb.)
Was für ein ‚einleuchtender‘ Titel. Man erfährt zwar schnell, dass er sich vordergründig aus den nächtlichen Illuminationen ableitet, in die Berlin innerhalb der Festwoche Berlin im Licht des Jahres 1928 getaucht war, aber eigentlich gilt der Titel der gesamten Epoche zwischen 1918 und 1933: dem Aufleuchten Berlins, seinen Krisen und Kontrasten und den diese Dekade beschließenden Eintrübungen. Mit den illuminierenden Charakterisierungen ist man mitten in den Kapitelüberschriften des Buches. Schon diese Metaphern machen neugierig auf den seit rund zwei Jahrzehnten nur noch selten gewagten Versuch, das Zusammenspiel von urbaner Lebenswelt und politischen Krisen mit der besonderen künstlerischer Kreativität der Zwanziger Jahre des vorigen Jahrhunderts im Überblick zu betrachten.
Dietmar Schenk, Archivleiter an der Berliner Universität der Künste, trägt seit Jahren durch wertvolle Publikationen, zum Beispiel eine Monographie über die Berliner Musikhochschule (Die Hochschule für Musik zu Berlin, Preußens Konservatorium zwischen romantischem Klassizismus und Neuer Musik 1869-1932/33, Stuttgart 2004), durch Editionen etwa der Briefe des sozialistischen Musikreferenten im preußischen Kultusministerium, Leo Kestenberg (s. Rez. info-netz-musik) und als Kurator von Ausstellungen zu einer Neueinschätzung der künstlerischen Institutionen wie der Kunstpolitik der Weimarer Zeit bei. Durch seine Mitwirkung an dem DFG-Projekt Kontinuitäten und Brüche im Musikleben der Nachkriegszeit verfügt er über eine umfassende Kenntnis des Werks wie der Biographie von emigrierten oder in der NS-Zeit verfolgten Künstlern, denen die Zwanziger Jahre außerordentlich viele Impulse verdanken.
In seinem hier vorzustellenden Buch geht es Schenk um die „eigentümliche Konstellation im Verhältnis von Kunst und Leben“ (S. 8), die in der „Weltstadt“ Berlin die Zeit von 1918 bis 1933 prägte. Ihm gelingt es, die Darstellung dieser uns heute noch faszinierenden Dekade zu einem Leseerlebnis werden zu lassen. Indem alltagsgeschichtliche Zeugnisse unmittelbar neben persönliche Äußerungen von Künstlern gestellt und politische Ereignisse mit knappen Beschreibungen von Kunstwerken konfrontiert werden, weitet sich der Blick auf die Zeit in ungeahntem Maße.
Im Einleitungskapitel führt Schenk für die Entstehung der Legende von den Zwanziger Jahren, die Helmuth Plessner 1961 diagnostizierte, auch Künstler als Zeitzeugen an. 1946 lobte der Dirigent Bruno Walter in seinen Memoiren die Theaterleistungen der Zwanziger Jahre hymnisch und attestierte dem damaligen Berliner Publikum eine „Wachheit ohnegleichen“ (S. 16). Heinrich Mann erhob das republikanische Berlin 1949 zu einem Zentrum europäischer Gesittung. Der Autor stellt dar, dass sich das Bild der Goldenen Zwanziger Jahre erst allmählich herausschälen musste. Dann schlägt er einen Bogen bis zu den großen Geschichtsausstellungen der geteilten Stadt, etwa der vielsagenden Ausstellung Mythos Berlin (1987) anlässlich der 750-Jahrfeier. Der Leser gewinnt auf diese Weise den Eindruck, in eine für das kulturelle Leben Deutschlands bis heute ungemein wichtige Epoche eingeführt zu werden.
Der Lesefluss kann dank zahlreicher, in Anmerkungen eröffneter Nebenlinien jederzeit unterbrochen werden. Fast zu jeder Aussage im Text fügt der Autor in einer Art von Subtext eine Vielzahl von weiteren Gesichtspunkten an und gibt Hinweise für weiterführende Studien. Bevor er etwa an der erwähnten Stelle Bruno Walter zitiert, weist er auf Erinnerungen hin, die eine vergleichbare Wehmut im Rückblick auf die Zeit artikulieren, so von Max Tau, einem Lektor bei Bruno Cassirer, von Max Krell, Lektor bei Ullstein, und Hans Sahl, dem New Yorker Exilanten, um in derselben Anmerkung zugleich auf Adornos kritische Einschätzung der Kultur der Zwanziger Jahre einzugehen, die einen Kontrapunkt zu Plessner setzt (S. 15). Und im Anschluss an einen Literaturtitel zur Biographie von Bruno Walter versäumt der Autor nicht, mit einem Seitenblick auf den italienischen Schriftsteller Pier M. Rosso di San Secondo, einen der journalistischen Berichterstatter aus dem Berlin der Zwanziger Jahre, die von Bruno Walter festgestellte Aufgeschlossenheit und Neugierde des damaligen Berliner Publikums zu bestätigen (S. 16).
Damit ist die Struktur dieser Darstellung der Berliner Kultur der Zwanziger Jahre in ihren Grundzügen umrissen. Sie findet in allen Kapiteln des Buches Anwendung und überlässt dem Leser die Entscheidung, ob er es in Form einer anschaulichen Erzählung über das Lebensgefühl und die Kunstwerke des Jahrzehnts rezipieren oder als Ausgangspunkt kritischer Reflexion nutzen will. In gewisser Weise auf zwei Ebenen wird der keineswegs simple Zusammenhang der verschiedenen Strömungen der Neuen Kunst – des Dadaismus, des Expressionismus der zweiten Generation, des Konstruktivismus, der Neuen Sachlichkeit etc. – mit der allgemeinen Situation der Zeit verhandelt.
Voraussetzungen für diese Art der Präsentation liegen in den besonderen Zeitumständen. In den Worten des Autors: „Was Kunst und Leben in den Zwanziger Jahren […] zusammenfügte, war der tiefgreifende politisch-gesellschaftliche Wandel, der in den einschneidenden Ereignissen dieser Jahre sichtbar wurde.“ Er stellte für die Künste eine Herausforderung dar, „erschütterte aber auch die Existenz zahlreicher Menschen, über die Grenzen einzelner sozialer Milieus und weltanschaulicher Orientierung hinweg.“ Eine narrative Darstellung sei deshalb möglich: „Solche komplexen Vorgänge lassen sich, so schwierig ein solches Unternehmen ist, annähernd in die Form einer Erzählung einbinden.“ (S. 24) Diese wird jedoch nicht zuletzt durch die ausgiebigen Anmerkungen in gewisser Weise relativiert und aufgelöst.
Seine Geschichte der Verflechtungen von Kunst und Leben, von politisch-sozialen Krisen und ihren Ausdrucksformen in der Kunst-Moderne der Jahre 1918 bis 1933 beginnt der Autor aber im kaiserlichen Berlin. Die Stadtentwicklung und Kunstszene seit der Reichsgründung, vor allem die Katastrophe des Ersten Weltkrieges, sind wichtige Voraussetzungen für die künstlerische Entwicklung der Zwanziger Jahre. Schenk benennt die ‚Großen‘ der einzelnen Sparten, etwa George Grosz, Alfred Döblin und Kurt Weill, darüber hinaus richtet sich sein Interesse jedoch auch auf das Werk ausgewählter Künstler, die eher am Rande standen, wie zum Beispiel Ludwig Meidner. Aus Erinnerungen des Malers erfährt man – mit expressionistischer Emphase geschildert – von kaum erträglichen Lebensbedingungen und von der Vorahnung der Katastrophe des Ersten Weltkriegs, die sich in seinen von Kubismus und Futurismus beeinflussten Bildern der Jahre ab 1912 niederschlägt. Ein wenig beachteter Schriftsteller ist auch Franz Hessel, ein „Anwalt der Langsamkeit“ (S. 153). Ihm und seinem literarischen Oeuvre, vom Spazierengehen in Berlin als Lehrbuch dieser Kunst bis hin zum Roman Heimliches Berlin von 1927 wird innerhalb eines Kapitels Ansichten der Großstadt Raum gegeben.
Dem Kulturhistoriker Schenk liegt auch daran, die Verdienste der Weimarer Republik um die Förderung der Künste hervorzuheben. „Hier einmal genauer hinzuschauen, legt schon die geläufig gewordene Bezeichnung Weimarer Kultur nahe: Im wörtlichen Sinne verstanden als Kultur der Weimarer Republik, umgreift sie die gesamte Kulturarbeit staatlicher und städtischer Einrichtungen, die auf der Basis republikfreundlicher Ideale zustande kam.“ (S. 105f.) Als einer der wenigen beeindruckenden Politiker der Weimarer Republik wird auf den Sozialdemokraten Otto Braun eingegangen, der ab 1921 als Ministerpräsident des Staates Preußen amtierte. Er selbst griff zwar kaum ins Kultur-Ressort ein, doch standen ihm in der Person des Kultusministers und Staatssekretärs Carl Heinrich Becker, eines Orientalisten, wie etwa auch des Musikreferenten Leo Kestenberg Mitstreiter zur Seite, die eine kontinuierliche, wenn auch aufgrund der wirtschaftlichen Schwierigkeiten immer wieder geschwächte Kunstpolitik zugunsten der Republik betrieben.
Dietmar Schenk ist ein in jeder Hinsicht lesenswerter Überblick gelungen, der die Kunstszene im Berlin der Zwanziger Jahre vielschichtig porträtiert.
Anna-Christine Rhode-Jüchtern
Werther, 15.01.2016