Hermann Levi: „Wie freue ich mich auf das Orchester!“ Briefe des Dirigenten Hermann Levi / Ausgewählt und kommentiert von Dieter Steil – Köln: Dohr, 2015 – 455 S.
978-3-86846-123-7 : € 48,80 (geb.)
Dazu, dem heute nur noch sagenumwobenen, neben dem fleißig publizierenden Hans von Bülow, neben Franz Liszt, Felix Mottl und den Lachner-Brüdern wohl bedeutendsten Dirigenten der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts etwas näher zu kommen, ist die nun vorliegende kommentierte Briefauswahl allemal geeignet. Wenn dem inneren Ohr und musikalischen Gedächtnis während der Lektüre indirekt vorgeführt wird, wen und was er alles dirigiert hat und besonderes welche Werke er uraufgeführt hat, so wird einem deutlich, in welch produktiver Endphase der klassisch-romantischen Kunstperiode Hermann Levi wirkte. Es waren darunter fast nur Werke (solche von Schumann, Brahms, Wagner und Richard Strauss), die auch heute immer noch als kanonbildend behandelt werden, d.h. unwiderstehlich, anziehend und unzerstörbar sind, aber auch verschmähte und deklassierte Werke, für die er sich letztlich vergeblich einsetzte (wie für Schumanns Genoveva). Wie es aus seinen Briefen ablesbar ist, waren sein künstlerisches Ethos und seine akribische Art, Partituren zu lesen und klanglich zu realisieren, beeindruckend. Seine Daponte-Übersetzungen waren, bis sie unter der Nazi-Herrschaft durch die Schünemanns ersetzt werden mussten, vorbildlich für eine die Musik Mozarts nicht verletzende Eindeutschung. Seine Mozart-Aufführungen waren noch vor denen Gustav Mahlers geeignet, Mozarts Geist gegen den ihm feindlichen Zeitgeist des ausgehenden 19. Jahrhunderts zur Geltung kommen zu lassen.
Die Auswahl der Briefe Levis ist streng chronologisch gehalten und bringt sie in buntem Wechsel der Adressaten. Das hat Vor- und Nachteile. In einer solchen Situation wie jener, dass Levi eine gegen den Willen Wagners angestrengte Aufführung der Walküre in München dirigieren soll, ist es natürlich in einer unmittelbaren Folge zweier Briefe sehr pointiert zu sehen, wie unterschiedlich Levi darüber schreibt: mit Wagner selbst (Beratung suchend) und mit seinem Freund Johannes Brahms. Andererseits gewinnt man auf diese Weise kein in sich zusammenhängendes Bild vom spezifischen Charakter der jeweiligen Beziehungen, die Levi zu den unterschiedlichsten Adressaten unterhält. Man könnte auf verschiedene Weise mit dieser Briefsammlung umgehen. Wollte man die Entwicklung der Beziehungen zu einem einzigen der immer wieder auftretenden Briefpartner verfolgen, müsste man sich die im Personenregister fett gedruckten Seitenzahlen vornehmen und durchs Buch springen. Sie in der Reihenfolge zu lesen, in der sie abgedruckt sind, würde sicherlich auch den jeweils besonderen Ton, den Levi bestimmten Partnern gegenüber anschlägt, durch den Kontrast deutlicher machen. Man lese und vergleiche also die unterschiedliche Haltung, mit der Levi sowohl geschäftsmäßig als auch verehrungsvoll, sowohl hingebungsvoll als auch widerständig, also doppelbödig, mit Richard Wagner korrespondiert, sowie den vertraulich-freundschaftlichen Ton mit Brahms. Man lese und vergleiche den sowohl devoten als auch gezierten, manchmal sogar gereizten Ton, in dem er der Witwe und Gralshüterin Cosima Wagner schreibt, sowie den auf die Sache von Schumanns Musik und auf familiäre Fragen gerichteten Ton, in dem er einer anderen Witwe, Clara Schumann, begegnet.
Im Grunde war Levis Sympathie für Wagners Musikdramen ideologiefrei, sonst hätte er sie nicht bloß als Werke unter anderen dirigieren können, sondern sich dem totalitären, andere Musikformen ausschließenden Anspruch Wagners unterworfen. Er war also selbst später, als er in Bayreuth verkehrte, kein radikaler, sondern ein gemäßigter Wagnerianer. Dennoch ist sein Verhalten ein schillerndes Beispiel für jüdische Wagnerphilie, denn der nervöse und sehnsüchtig gestimmte Charakter Levis (er war der Sohn eines Gießener Rabbis) sympathisierte mit Wagners gezielt eingesetzter germanisch-christlicher Erlösungspropaganda. Levi verbeugte sich zwar zunehmend vor ihr, erlag ihr aber letztlich nicht. Wagners abgekartetes Spiel um Levis Dirigat der Uraufführung des Parsifal zeugt davon. Levis späte Heirat mit einer christlichen Frau wird von Cosima auch später noch mit missionarischen Forderungen nicht nur nach Levis Austritt aus der Synagoge (wozu er bereit ist), sondern auch nach einer christlichen Taufe verbunden (die er verweigert). Den suggerierten erlösenden Betritt ins „ächte Land“ eines wagnerisierten Christentums kontert Levi indirekt mithilfe seiner Goethephilie, die ihn davor bewahrt, sich erneut konfessionell zu binden und einer historisch überlieferten, von Goethe aber kritisierten und abgelehnten Kreuzessymbolik zu ergeben. Da Cosima (im Gegensatz zu den meisten assimilierten gebildeten Juden in Deutschland) Goethe, den frommen, allen Religionen aufgeschlossen gegenüberstehenden Heiden, kaum kennt, stellt er ihr einen eigenen Goethe-Kalender mit Gedanken und Aussprüchen aus Goethes Werken zusammen, denen Cosima Wagner jeden Tag hätte nachsinnen sollen.
Eine andere Entscheidung des Herausgebers wiegt etwas schwerer, und deren Folgen wären auch durch abweichende Leseanordnung schwer abzumildern, nämlich, dass hier keine Briefwechsel, sondern nur einseitig die Briefe von Levi abgedruckt sind. Bei einem Abdruck der Briefe und Gegenbriefe wäre dann tatsächlich eine jeweils in sich geschlossene Wiedergabe der Brieffolgen zwischen den Partnern möglich und erforderlich gewesen. Herausgeber und Verleger haben so entschieden, obwohl (oder weil) in den betreffenden gedruckten Quellenbänden der edierten Briefwechsel mit Brahms, den Wagners und den Schumanns die Gegenbriefe enthalten sind. Man muss sich also hier entweder auf die mitunter recht spärlichen Mitteilungen des Herausgebers (Dieter Steil ist Gießener Lokalhistoriker und aktiver Fürsprecher der jüdisch-christlichen Zusammenarbeit) in seinen sonst sehr instruktiven und verlässlichen Kommentaren stützen oder müsste die anderen Briefausgaben heranziehen. Mindestens in einem besonderen Fall, in dem Levi nicht mehr als Cosimas „Major“ der „verehrten Meisterin“ gegenübertritt, sondern die Anrede unterlässt, hätte man nur zu gerne genauer gewusst, welcher Wortlaut im vorangegangenen Brief der Bayreuther Wagner-Verwalterin in der Lage war, Levi so zu verstimmen.
Bereichert wird der Blick in die Lebensumstände, persönlichen Verknüpfungen und Gefühlslagen dieses klugen und warmherzigen Musikers durch familiäre Briefe (besonders aufschlussreich die an den Vater), Briefe an andere Musiker, Dirigentenkollegen und Komponisten, darunter Ferdinand Hiller und Richard Strauss, und besonders durch Levis ins Homoerotische schweifenden Briefe an den Dichter (und Nobelpreisträger) Paul Heyse, durch die dessen zentrale Stellung in der Kultur des Kaiserreiches deutlich wird. Mit dieser Briefauswahl wurde ein längst fälliges erstes und authentisches Erinnerungszeichen an Hermann Levi gesetzt.
Inhalt- und Briefverzeichnis
Peter Sühring
Berlin, 11.01.2016