Groote, Inga Mai: Östliche Ouvertüren. Russische Musik in Paris 1870-1913. – Kassel [u.a.]: Bärenreiter 2014. – 410 S.: sw-Abb. (Schweizer Beiträge zur Musikforschung ; 19)
ISBN 978-3-7618-2366-8 : € 39,95 (Pb.)
„Aus zeitlicher Distanz geschrieben und geschickt mit den literarischen Topoi über Paris spielend, zeigt dieser Ausschnitt aus den Erinnerungen von Léon-Paul Fargue (1876-1946), dem emblematischen Flaneur und Beobachter des ‚typischen‘ Paris um 1900, dass offenbar zwischen den städtischen Strukturen von Paris (Salons für die Soziabilität, die Banken für die tatsächlich aufgelegten Staatsanleihen, Vergnügungslokalen), gesellschaftlichen Konstellationen (eine Nivellierung zwischen ausländischen Residenten, Bürgertum und Intellektuellen) und dem ‚Ereignis‘ der russischen Musik Verstärkungen möglich waren und stattfanden“ (S. 17).
An diesem in Länge und Struktur nicht untypischen Satz zeigen sich exemplarisch die bemerkenswerten wie die heiklen Seiten der Schrift, mit der sich Inga Mai Groote 2013 in Zürich habilitiert hat. Positiv, ja überwältigend ist die Fülle an Detailkenntnissen, die hier auf engstem Raum kondensiert ist: Die Autorin (die nach einer Professur in Fribourg inzwischen einen Ruf nach Heidelberg erhielt) hat die überwiegend französischsprachige historische Publizistik im Literaturverzeichnis nicht nur akribisch gesichtet, sondern in Form von Faktenwissen minutiös in die Schrift mit eingebracht. Da eine „klare Trennung zwischen politischen, gesellschaftlichen wie kulturellen Momenten“ (S. 97) schwer möglich scheint, reicht Grootes Untersuchung weit über das Musikwissenschaftliche hinaus und versteht sich als Arbeit zur sogenannten Kulturtransferforschung.
Um die schiere Menge an Material zu bewältigen, entscheidet sich die Verfasserin für eine deduktive Darstellungsart, die den Leser nicht in die Quellenexegese mit einbezieht, sondern Deutungen präsentiert. Hierdurch und durch die Entscheidung, große Zitatblöcke für sich selbst sprechen zu lassen oder Texte paraphrasierend zusammenzufassen, gelingt es Groote, ihre mannigfaltigen Erkenntnisse in eine nachvollziehbare Ordnung zu bringen. Die Publikation zeigt schlüssig, wie Frankreich im letzten Drittel des 19. Jh. die russische Kultur für sich entdeckt und für einen eigenen Weg in die Moderne nutzt. Denn nach dem Deutsch-Französischen Krieg von 1870/71 wirkt das Russische als produktiver Katalysator für die Abgrenzung gegenüber den teutonischen Nachbarn, sodass Groote gleich zu Beginn resümiert: „Die Aufgeschlossenheit in Frankreich für die russischen Fünf [gemeint sind die Komponisten Balakirew, Borodin, Cui, Mussorgski und Rimski-Korsakow] dürfte letztendlich dadurch bedingt gewesen sein, dass sie ein geeignetes Modell darstellten, wie man eine ‚eigene‘ musikalische Tradition begründet“ (S. 10).
Die Kehrseite der deduktiven Präsentation besteht darin, dass die Quellenexegese nicht ohne weiteres nachvollziehbar ist. Das fängt im Kleinen an: Sind die „großen Erfolge“, die Groote Andreevs Balalaika-Ensembles für das Jahr 1889 auf S. 95 attestiert, verifizierbar – oder handelt es sich nur um einen Rückschluss aus dem Beleg für 1892? Es wird nicht einfacher, wenn kurze Zitate ohne eindeutige Quellenangabe bleiben (in Anmerkung 357 stehen drei Seitenzahlen zur Auswahl) oder Fakten addiert werden, ohne nach Wichtigkeit abgestuft oder logisch verknüpft zu sein (das Zitat zur Balalaika in derselben Fußnote steht inhaltlich konträr).
Dennoch ist der Wissensgewinn enorm – selbst wenn für Einblicke in den kompositorischen Kulturtransfer (beispielsweise durch Rabaud, S. 215f., oder Tournemire, S. 294-296) kaum Platz bleibt. Der Verfasserin geht es auch gar nicht darum, „ob die russische Musik tatsächlich ‚so sei‘, wie sie von den Protagonisten in Frankreich beschrieben oder wahrgenommen wurde, sondern warum die an ihr hervorgehobenen Eigenschaften für die Beteiligten [...] so attraktiv waren und mit welchen Agenden und Intentionen sie sich verknüpfen ließen“ (S.33).
Die entsprechenden Diskurse untersucht Groote in sechs Großkapiteln: „Metropole und Identität“, „Ereignisse und Kontinuitäten“, „Bühnen und Intérieurs“, „Musikalien und Meinungen“, „Kunstmusik und Folklore“ und „Kanon und Gegenkanon“. Der Anhang enthält u. a. eine Auflistung relevanter Noten aus dem Inventarbuch des Pariser Konservatoriums und eine Zusammenfassung der Verlagskorrespondenz von Bessel und Atruc. Vor allem aber bietet er eine nach Konzertveranstaltern gegliederte Auflistung russischer (und auf Russland bezogener) Werke, für die der eher moderate Anschaffungspreis des Buches bereits lohnt. Allerdings gibt es merkwürdige Lücken z. B. bei Tschaikowski: Warum tauchen die Weltausstellungs-Konzerte vom September 1878 nur im Haupttext auf (S. 81) und nicht in der Liste? – Hier (wie in vielen anderen Fällen) empfiehlt sich eine Parallellektüre mit Lucinde Brauns fast zeitgleich entstandener Publikation La terre promise: Frankreich im Leben und Schaffen Čajkovskijs (Mainz/Schott 2014), die ganz ähnliche Grundgedanken verfolgt, aber bevorzugt induktiv arbeitet.
Anzumerken bleibt, dass Frankreich in der Untersuchung fast umstandslos mit Paris gleichzusetzen ist (was ausführlich begründet wird), dass sämtliche französischsprachigen Zitate unübersetzt bleiben und dass die Abbildungen rein dekorative Funktion zu haben scheinen; lediglich das Titelblatt wird programmatisch aufgefasst und besprochen (S. 43). Außerdem gibt es keine Schlusszusammenfassung, kein Werkregister und nicht ein einziges Notenbeispiel. Damit steht die Schrift im Trend einer Musikforschung, der die Kontexte wichtiger sind als die Musik selbst. Weniger eindrucksvoll ist sie darum nicht. Nun gilt es, die Einsichten auch an den Partituren zu prüfen.
Kadja Grönke
Oldenburg, 15.03.2015