Johann Mattheson: Texte aus dem Nachlass [Peter Sühring]

Johann Mattheson: Texte aus dem Nachlass / Hrsg. von Wolfgang Hirschmann und Bernhard Jahn – Hildesheim: Olms, 2014. – 706 S.: Abb.
ISBN 978-3-487-14531-0 : € 98,00 (geb.)

Zunächst lässt die Tatsache staunen, dass der so vielseitige und produktive Publizist Johann Mattheson (1681‑1764) noch mehr geschrieben haben sollte, als er selbst zu Lebzeiten fleißig veröffentlicht hat. Dann ist man froh, dass der umfangreiche Nachlass aus den vom Krieg unversehrt gebliebenen Beständen der Hamburger Staats- und Universitätsbibliothek und solchen, die 1989 aus Ost-Berlin und 1998 aus Eriwan (!) zurückgekehrt sind, nun gesichtet, erschlossen, online recherchierbar gemacht und endlich teilweise ediert werden konnte. Denn nicht nur können nun bekannte Interessen und Ansichten dieses Weltmannes vertieft zur Kenntnis genommen werden, sondern es eröffnen sich auch neue Aspekte, und man merkt, dass der in mancher Hinsicht brisantere Teil seiner Schriften bisher im Verborgenen lag – Seltsam bei einem Mann, der so viel für die Unsterblichkeit anderer Zeitgenossen getan hat, indem er ihnen in seiner Ehrenpforte ein erstes biografisches und werkgeschichtliches Denkmal setzte. Gleich vier neue oder zu ergänzende Lebensbeschreibungen, die Mattheson noch in seine Ehrenpforte aufnehmen wollte, sind hier zu finden.
Die Vergessenheit, mit der weniger Matthesons Lehrschriften als seine Kompositionen heute geschlagen sind, ist erstaunlich bei einem Mann, der neben Cembalo-Suiten und Flöten-Sonaten an die acht Opern und 22 Oratorien geschrieben hatte, darunter die Passionsmusik nach dem berühmten Libretto des Hamburger Ratsherrn Barthold Heinrich Brockes, die im Schatten anderer, von Mattheson zum Teil in Hamburg uraufgeführter Vertonungen von Händel, Telemann und Keiser stehen geblieben ist. Dem Missstand, dass Matthesons Kompositionen auch 2014, im Jahr seines 250. Todestags, unbekannt blieben und kaum gespielt wurden, konnten auch die wenigen Publikationen, darunter diese Nachlass-Edition und eine erste Biografie auf dem Stand neuester Forschungen von Holger Böning nicht eigentlich abhelfen.
Es gibt auch ein Air von Mattheson – es ist nicht ganz so berühmt wie das von Bach, wird aber auch gerne verschnulzt dargeboten. Wer aber kennt heute noch die Vorstufe zu Bachs Kunst der Fuge, die da heißt Die wohlklingende Fingersprache (in zwei Teilen 1735 und 1737), in der schon Mattheson Doppel- und Tripelfugen veröffentlichte, zu denen er sich wünschte, „etwas dergleichen von dem berühmten Herrn Bach in Leipzig, der ein großer Fugenmeister ist, ans Licht gestellt zu sehen“. Diesen Wunsch konnte Bach ihm erfüllen, wenn auch erst posthum und fragmentarisch.
Dass Mattheson bewusst ausgeblendet wurde, wird und wohl auch weiter werden wird, hängt mit seinem Charakter und seiner Denkweise zusammen, die man als aufgeklärt und fromm zugleich bezeichnen kann, nicht ganz unähnlich der von Matthias Claudius. Daraus folgt, dass er den reinen Frömmlern (auch den Kunstreligiösen) als zu aufgeklärt und rational erscheint und den Hyperaufgeklärten, die nichts Religiöses mehr kennen wollen, als frömmelnd. Er war als Autodidakt freisinnig, wollte nichts ungeprüft übernehmen, war um der Wahrheit willen angriffslustig auf bestehende Dogmen und streitlustig gegen jedermann, der die Musik in ihren Möglichkeiten einschränken wollte. Gerade darum gilt er bis heute als besserwisserisch, unangenehm für Leute, die sich lieber mit halbem, schlechtem und falschem Wissen zufrieden geben.
Mattheson wäre jener Musiker, der er bis zu seiner frühzeitigen Ertaubung im Jahr 1724 war, nicht gewesen oder hätte es nicht sein können, wenn er nicht zugleich sich für fast alles, was in der Welt passierte, interessiert hätte. Es wäre vielleicht übertrieben, Mattheson wegen der nach seiner Ertaubung einsetzenden Schriftstellerei als einen der letzten Universalgelehrten oder Polyhistoren zu bezeichnen, aber wenn man sich seine vielen Interessen und Funktionen anschaut, die er wahrnahm, muss man über diese Vielseitigkeit staunen und darf sich fragen, welchen Vorteil sie für seine Musikauffassung hatte. Dass für ihn Musik mitten im Leben zu suchen sei, vielmehr eine Art Lebenselixier sei, weswegen er auch ihre soziale Stellung zu fördern und zu heben suchte, ist wohl das Besondere an Matthesons Auffassung.
Nur für Fachleute wollte Mattheson nicht geschrieben haben. Seine humanistische Ausbildung eines hanseatischen Bürgersohns, seine frühe Karriere als Opernsänger an der Hamburger Gänsemarkt-Oper, später die als Opernkomponist, sein Dienst am Hamburger Dom, der nicht der kirchlich-städtischen Obrigkeit unterstand und an dem er zum ersten Mal Frauen solistisch singen ließ (woran wir uns seitdem gewöhnen konnten), der Kirchenchoräle in tänzerische Instrumentalsätze verwandelte, seine Rolle als Diplomat (er war hauptberuflich Jahrzehnte lang Sekretär des britischen Gesandten in Hamburg) und als Übersetzer (nicht nur von Mainwarings erster Händel-Biografie, sondern auch von Defoes Kurtisanenroman Moll Flanders) – dies und noch viel mehr (auch die besonders heikle Freundschaft mit dem später in London, also für Mattheson nicht weit weg, wohnenden Händel) muss man wissen, um die nun veröffentlichten Teile seines Nachlasses würdigen zu können. So werden hier zwei von Mattheson übersetzte zentrale Passagen aus den Pensée von Pascal publiziert. Dass Mattheson nebenbei Vorreiter eines kritischen und unabhängigen (nicht nur Musik‑)Journalismus war, sollte auch jene interessieren, die meinen, Mattheson nur als Musiker und Musiktheoretiker Aufmerksamkeit spenden zu brauchen, denn bei Mattheson war die Sphäre des Musikalischen von den anderen nicht zu trennen. Dass Musik als öffentliches Kulturgut angesehen und gefördert werden sollte, ist eine Einsicht, die das Bürgertum von Mattheson lernen konnte. Dass schon Mattheson am Beginn dieser Entwicklung für deren Anerkennung streiten musste, könnte jenen Ansporn (und Trost) sein, die nicht bloß zusehen wollen, wie dieser Anspruch heutzutage langsam aber sicher kaputt gemacht wird.
Sein Konzept hatte er schon 1715 in der Vor- und Anrede an die heutigen berühmten Compositeurs seines „Harmonischen Denkmals“ (einer Sammlung von zwölf ausgewählten Klaviersuiten) niedergelegt. Ihm ging es darum, für ein neues, modernes Selbstverständnis der zeitgenössischen Musiker nützliche und unentbehrliche, sozusagen wegweisende Exempel zu statuieren, bei denen das Ideal des „galant homme“ am besten verwirklicht worden sei. Das Konzept der Galanterie besagte, dass der von Standesvorurteilen freie moderne Künstler weder Vorstellungen von bloßer Natürlichkeit noch von übergroßer Verfeinerung folgen solle, sondern denen von wohlerzogener und -gesinnter, lebendiger aber einfacher Genussfähigkeit, was Einfallsreichtum und Spontaneität keinesfalls ausschloss. Dieses humanistische Ideal wollte Mattheson nicht nur durch eigene und fremde Kompositionen, sondern auch durch eine dementsprechende Lebensführung und -anschauung verwirklicht sehen. Daher rührten seine nicht nur musiktheoretischen und -praktischen Unterweisungen, sondern ebenso seine lebensphilosophisch gemeinten Schriften.
Der hier umrissene Horizont findet sich auf beeindruckende Weise durch ergänzende Dokumente in der Nachlasspublikation wieder, die ca. ein Drittel der Bestände umfasst. Insgesamt werden 57 Schriften veröffentlicht, davon sind 26 Gedichte geistlichen und äußerst profanen Inhalts. Die verbleibenden 31 Schriften verteilen sich auf fünf Kapitel mit den thematischen Rubriken: (Auto)Biographisches, Publizistik, Philosophie und Ästhetik, Theologie und Moral sowie Musik. Da, wo Mattheson nur repliziert, werden die Vorlagen in Anhängen mit abgedruckt (so zwei Rezensionen seiner Bücher, gegen die er sich wehrt, darunter einer Kritik seiner Kleinen Generalbass-Schule, und Gottscheds Text zur Musik am heiligen Oster-Feste, welches Libretto Mattheson nicht gefällt). Matthesons Schrift gegen die Torheit der Augenorgel trennt und erläutert die heute wieder so gerne zusammen geworfenen Formen auditiver und visueller Sinnlichkeit. Die Verzeichnisse im Anhang zu diesen von den Herausgebern und deren Mitarbeitern sorgfältig edierten Dokumenten erschließen das inhaltlich weitgefächerte und gelehrte Material aufs Beste.

Peter Sühring
Berlin, 22.02.2015

 

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