Grimaud, Hélène: Das Lied der Natur. Romantische Fantasien / Aus dem Franz. von Michael Killisch-Horn – München: Bertelsmann, 2014. – 224 S.
ISBN 978-3-570-10221-3 : € 17,99 (geb.; auch als e-Book)
Mysteriös – war mein erster Gedanke, als ich die ersten Seiten von Hélène Grimauds Buch Das Lied der Natur gelesen hatte. Während der Proben zu Brahms‘ zweitem Klavierkonzert in Hamburg macht sie einen Spaziergang und stößt dabei auf ein dubioses Antiquariat, in dem ihr ein Manuskript in die Hände fällt, das mit Zeichnungen illustriert ist, signiert von Max Klinger. Der Name Max Klinger ist ihr ein Begriff, war er doch ein Freund von Brahms. Ohne großes Nachdenken erwirbt sie das Manuskript und lässt es von einem deutschen Freund übersetzen. Fortan beginnt eine lange Auseinandersetzung mit dem Text und der Biographie von Brahms. Als Autor des Manuskripts ist Karl Würth genannt – das Pseudonym von Johannes Brahms.
Würths Text schildert eine Reise in die Natur, in die Einsamkeit, bietet Raum für Halluzinationen und Naturbetrachtungen. Zwischen den einzelnen „Kapiteln“ des Manuskripts beschreibt Grimaud ihre eigenen Gedanken zum Text sowie die Geschichte ihrer Recherchen. Das, was Karl Würth schildert, sind oberflächlich romantische Naturbetrachtungen, genauer hingesehen romantische Naturphilosophie, die typisch ist für Brahms und Schumann.
Hélène Grimaud ist, wie viele wissen werden, passionierte Naturschützerin und setzt sich insbesondere für Wölfe ein, die einen geschützten und angemessenen Lebensraum auf der Erde brauchen. So hat sie in South-Salem, nördlich von New York, ein Reservat für Wölfe eingerichtet.
Die Naturphilosophie der Romantik trifft bei ihr also auf fruchtbaren Boden, trifft sie sozusagen ins Mark. Zu Brahms hat sie seit ihrer Kindheit eine besondere Beziehung. Sie sagt selbst in einem Interview: „Brahms besetzt meinen Lebensraum in sehr signifikanter Weise.“ Ihre eigene Liebe zur Natur und ihr Kummer über die Zerstörung von Natur und Lebensräumen ist die engagierte Fortführung dessen, was die Romantiker in der Natur bereits gesehen haben. Natur als Quelle, als Anregung, als Erlösung.
Wie wohl auch Brahms braucht Grimaud diese Bilder, diese Visionen und die Urwüchsigkeit, um die Werke der Romantik, speziell die Werke von Brahms, zu verstehen und zu interpretieren.
Das Buch liest sich spannend, schwebt aber die ganze Zeit zwischen Realität und Fiktion. Zu keiner Zeit wird deutlich, was daran nun wahr und was erfunden ist. Gibt es dieses Manuskript von Karl Würth mit den Illustrationen Max Klingers tatsächlich? Wenn ja, ist es wirklich von Brahms? Wieso untersucht Grimaud dann nicht das Manuskript soweit, dass es wissenschaftlich klar wäre, ob es von Brahms sein könnte oder nicht? Da sie sich mit der Biographie von Brahms begnügt, darf man zweifeln, ob nicht doch alles erfunden ist. Das dubiose Antiquariat, das im Laufe des Buches dann doch vielleicht gar nicht existiert hat, sowie ein Spiegel, der mysteriöse Bilder zeigt wie der Spiegel Nerhegeb in Harry Potter, bestärken diese Zweifel umso mehr. Märchenhaftes, Naturphilosophie und Fantasie mischen sich mit der Realität, die man jedoch als Leser nicht wirklich ausmachen kann. Alles bleibt offen und der Leser wird seiner Fantasie überlassen. – Ein genialer Schachzug der Autorin, der den Leser Brahms-Werke – oder zumindest das Zweite Klavierkonzert – mit anderen Ohren hören lässt.
Für Grimaud ist die Konsequenz aus der Auseinandersetzung mit diesen naturphilosophischen Themen die Rückkehr nach Salem, Rückkehr zu den Wölfen. Erst nachdem ich das Buch vollständig gelesen hatte, wurde mir bewusst, dass der französische Originaltitel Retour á Salem heißt. Erst dann habe ich verstanden, worum es eigentlich geht: Es geht um sie, um ihre Auseinandersetzung mit der romantischen Naturphilosophie, um ihre Beziehung zu Brahms und um ihre persönliche Beziehung zur Natur, speziell zu den Wölfen. Im deutschen Titel wird das nicht so deutlich. Sie geht zurück nach Salem, weil sie dort bei den Wölfen findet, was sie für ihr Leben und ihre musikalische Arbeit braucht. Der Weg dorthin hat auch mit Brahms zu tun, aber letztlich ist es dann egal, wie viel Realität oder Fiktion in ihrem Buch steckt. Ihr Weg führt zu den Wölfen; das ist Fakt.
Barbara Wolf
Heidelberg, 01.03.2015