Inna Klause: Der Klang des Gulag. Musik und Musiker in den sowjetischen Zwangsarbeitslagern der 1920er- bis 1950er-Jahre [Kadja Grönke]

Klause, Inna: Der Klang des Gulag. Musik und Musiker in den sowjetischen Zwangsarbeitslagern der 1920er- bis 1950er-Jahre. – Göttingen: V & R unipress, 2014. – 691 S.: Abb., Notenbeisp.
ISBN 978-3-8471-0259-5 : € 89,99 (geb.; auch als e-Book)

Es gibt Bücher, vor denen muss man sich verneigen allein schon deshalb, weil es sie gibt. Inna Klauses Dissertation, mit der sie 2012 an der Hochschule für Musik, Theater und Medien Hannover promoviert wurde, ist ein solches Buch. Und gerade weil man sich angesichts des Themas wünscht, es gäbe den Anlass für eine solche Schrift gar nicht, ist es gut und notwendig, dass die Dissertation nun – in ansprechender Aufmachung und mit angemessener Menge an Abbildungen und Notenbeispielen – allgemein zugänglich im Druck vorliegt.
Während es mittlerweile eine gewisse Anzahl an wissenschaftlichen und Erinnerungstexten zu Musik im KZ gibt, sind die sowjetischen Zwangsarbeitslager (mit ihrer grundsätzlich andersgearteten Internierungsstrategie) ein noch immer gemiedener Forschungsgegenstand – nicht nur in der Musikwissenschaft. Auch wenn es seit 1988 die Menschenrechtsorganisation „Memorial“ und einige andere Nichtregierungsorganisationen gibt, die es sich zur Aufgabe gemacht haben, gegen alle Widerstände die Zwangsarbeitslager, Gefängnisse und Verbannungsorte des sowjetischen Strafsystems zu dokumentieren, Namen und Zeugnisse des Lageralltags zu archivieren und gegen das Verdrängen und Vergessen anzuarbeiten, ist der Archipel Gulag, der mit Alexander Solschenizyns gleichnamigem literarisch-dokumentarischem Mammutwerk im historischen Gedächtnis verankert ist, doch immer noch von einem Grauschleier überdeckt. Wenn nicht einmal ausreichend Wissen über Inhaftierte, Überwacher, ja Existenz dieser sogenannten „Besserung durch Arbeit“ gegeben ist – wie soll es dann wohl möglich erscheinen, über Musik und MusikerInnen in dieser Parallelwelt zu schreiben?
Inna Klause hat sich der Aufgabe gestellt – als eine der ersten MusikwissenschaftlerInnen überhaupt und auf jeden Fall als erste mit solch umfassendem Anspruch. Doch wo anfangen bei einem solchen Thema, wo alles, selbst die Grundrecherche, vor Ort gemacht werden muss und nichts, nicht einmal die Basisinformationen, Allgemeingut sind? – Was hinter den auf 691 Seiten kompakt dargestellten Fakten an Rechercheintensität und Darstellungsarbeit steht, kann man nicht einmal annäherungsweise ermessen. Aber die eindrucksvolle Liste von Stipendien, die der Promotion vorausgegangen sind, und der vollkommen verdiente Dissertationspreis des Schroubek-Fonds Östliches Europa an der Ludwig-Maximilians-Universität München zeugen davon, dass die Autorin keine Mühe gescheut hat. Am Ende hat sie ein derart großes Konvolut an Material zusammengetragen, dass man im Prinzip drei Doktorarbeiten daraus hätte machen können.
Angesichts eines solchen Bergs an erstmals musikwissenschaftlich erschlossenen Fakten zu höchst unterschiedlichen Aspekten des Themas ist der Dreischritt von akribischer Faktenrecherche, kluger Fragestellung und sinnstiftender Gliederung besonders herausgefordert. Wo fängt man an? Bei den Inhaftierten, also beim Biographischen? Bei der Musizierpraxis und der Funktion von Musik im Lageralltag? Bei Musik, die im Gulag selbst entstand, oder bei Werken, die von außen versuchen, das dortige Leben in Kunst zu transformieren? Und um welche Art von Musik geht es überhaupt: um Musik als Manifestation des Lageralltags oder als versuchten Widerstand?
Die Zahl der Ansatzpunkte scheint verwirrend groß. Inna Klause entscheidet sich zunächst für eine chronologische Zweiteilung (1920er-/30er-Jahre und 1940er-/50er-Jahre), und innerhalb dieser beiden Großkapitel für die Untersuchung der „Verordneten Musikausübung“. Dabei geht sie auch geographisch vor: Solovki, Weißmeer-Ostsee-Kanal, Moskau-Wolga-Kanal, Kolyma, Magadan – alles Namen, die ebenso für Arbeitseinsätze wie für ausgedehnte Lagerkomplexe stehen. (Eine erschreckend dichtgedrängte kartografische Übersicht über alle Lagerstützpunkte gibt es unter www.gulag.memorial.de.) In Verbindung mit ausgewählten Kulturinstitutionen und Biographien gleicht dies bereits einer thematisch in sich geschlossenen eigenen Arbeit.
Das dritte Großkapitel weitet den Blick auf „Selbstbestimmtes Musizieren der Häftlinge“ und nimmt dabei nicht nur die „Lagerlieder“ in den Blick, sondern auch den Umgang mit Literatur (von dem auch Solschenizyn eindrücklich berichtet) und die Wahrnehmung von Klängen und Geräuschen im Rahmen der Haft. Im Kontrast zur „Verordneten Musikausübung“ der ersten beiden Großkapitel wird hier deutlich, dass Musik bzw. Klang auf beiden Seiten des Lageralltags seine Bedeutungen hatte: für die Wächter ebenso wie für die Bewachten – und zwar trotz (oder wegen?) eines Lebensumfelds, in dem schwerste körperliche Arbeit, Mangelernährung, Krankheit, Tod und der alltägliche Überlebenskampf die Existenz bestimmten und Solidarität und Menschlichkeit stets aufs Neue auf den Prüfstand gerieten. Die Frage, wie in einem solchen Schreckensszenario Kunst überhaupt denkbar oder gar praktizierbar sei, thematisiert Stefan Weiss, der Betreuer von Inna Klauses Arbeit, in seiner Laudatio anlässlich des Dissertationspreises: „Konnte sie in einer Situation unerträglicher Bedrückung ein Anderes entwerfen, eine Gegenwelt, und konnte sie Hoffnung geben, dass man das Lager, in das es einen verschlagen hat, irgendwann einmal hinter sich lassen würde?“ Und, so muss man weiterfragen: War das überhaupt ihr primäres Ziel?
Weiss expliziert: „Musik war im Gulag kein nach außen hin abgeschotteter Lebensbezirk, Musik war mittendrin und potentiell allgegenwärtig. Sie sollte einerseits Teil haben an jenem Ideal der Umerziehung, das die Lagerleitungen propagierten“. Andererseits öffnete sie tatsächlich Räume: „Die teilweise immens schwierige Realisation von Aufführungen im Bereich der Hochkultur etwa gab den zu Zwangsarbeit verurteilten Berufsmusikern die Vorstellung von sinnvoller Tätigkeit zurück.“ Inna Klause zeigt dies in dem vierten und letzten Teil der Arbeit anhand von Fallbeispielen konkreter KomponistInnen, InstrumentalistInnen und SängerInnen überwiegend des Bolschoi-Theaters.
In ihren vier Abschnitten bringt diese Publikation mit einem Schlag Unmengen von bislang unbekanntem Material zusammen, bereitet es so auf, dass von nun an damit gearbeitet werden kann und muss, und gibt dem Wissen über Musik in Stalins Strafgefangenenlagern eine faktische Grundlage, die weit über das – ebenfalls in der Arbeit enthaltene – Wissen um Namen und Biographien hinausgeht. Dies alles geschieht im Rahmen einer Darstellung, bei der die Verfasserin auch die emotionalen Hürden des Umgangs mit dem Entsetzlichen eindrucksvoll bewältigt hat. Denn eine solche Arbeit anzugehen erfordert ein hohes Maß an Taktgefühl, eine subtile Balance zwischen Nähe und Distanz und ein hohes Maß an Respekt für die Menschen, deren Leben und Leiden hinter Klauses Untersuchungsgegenstand nicht verloren gehen – deren Schicksale aber auch nicht mit falschem Pathos kleingeredet werden.

Kadja Grönke
Oldenburg, 19.12.2014

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