Sühring, Peter: Gustav Jacobsthal. Glück und Misere eines Musikforschers – Berlin: Hentrich & Hentrich, 2014 – 80 S.: Abb. (Jüdische Miniaturen ; 149)
ISBN 978-3-95565-042-1 : € 8,90 (kt.)
Seit Ende der 1980er Jahre, als eine umfassende Aufarbeitung der jüngsten deutschen Vergangenheit auch den kulturellen Bereich erreichte, wurden immer neue Namen jüdischer Musiker der Vergessenheit entrissen. Es waren dabei nicht nur diejenigen von ihnen, die Opfer des Nationalsozialismus geworden waren. Auch die Rezeption jüdischer Musiker aus dem 19. und dem frühen 20. Jahrhundert wurde erstmals wissenschaftlich hinterfragt. Als Beispiel dafür wäre etwa Rainer Hauptmanns hervorragende Untersuchung „Wir haben keine Heimat mehr − Felix Mendelssohn Bartholdy oder eine Geschichte kulturellen Antisemitismus im Deutschland des 19. und 20. Jahrhunderts (BoD-Verlag, 2012) zu erwähnen. Sie führt zahlreiche Belege einer antisemitisch tradierten, verzerrten Rezeption von Mendelssohns Schaffen (und Wirken) an, die zu seinen Lebzeiten begann und teilweise bis heute andauert.
Es ist jedoch selten vorgekommen, dass die musikwissenschaftliche Forschung solche Fragestellungen auch auf die eigene Fachgeschichte anwandte. Die Wirkung von Musikforschern jüdischer Abstammung, bzw. deren ungerechtfertigtes Vernachlässigen und Vergessen wurden bislang nur wenig thematisiert. Der Fall von Alfred Einstein (1880–1952), der trotz seines enormen musikwissenschaftlichen Werks von der akademischen Laufbahn in Deutschland seit seiner Promotion 1903 (also lange vor der Nazi-Zeit) konsequent ausgeschlossen wurde und schließlich 1933 in die USA fliehen musste, ist ein besonders eklatantes Beispiel, wenn auch bei weitem nicht das einzige.
Umso mehr zu würdigen ist die langjährige Arbeit von Peter Sühring über Gustav Jacobsthal (1845–1912), einen bedeutenden Musikwissenschaftler und Erforscher mittelalterlicher Musik. Nach mehreren Artikeln in der Fachpresse und einigen Monographien (zuletzt Gustav Jacobsthal. Ein Musikologe im deutschen Kaiserreich. Olms, 2013) zu diesem Thema legte Sühring nun einen biographischen Band in der verdienstvollen Serie Jüdische Miniaturen des Berliner Hentrich & Hentrich-Verlags vor.
Das Leben Jacobsthals, der 1897 zum ersten reichsdeutschen Ordinarius für Musikwissenschaft ernannt wurde und dessen wissenschaftliche Karriere größtenteils an der Universität Straßburg mit deren aufgeschlossenen, toleranten und konfessionsneutralen Atmosphäre verlief, war eigentlich eine Erfolgsgeschichte, die sich in der Blütezeit der viel beschworenen deutsch-jüdischen „Kultursymbiose“ abspielte. Die Tatsache allein, dass sich ein Jude sein Leben lang den mittelalterlichen Quellen der christlichen Musik widmete und dabei zu bahnbrechenden Erkenntnissen gelangte, die eine Neuinterpretation dieser Musik ermöglichte, ist schon bezeichnend. Jacobsthal wurde sowohl in seinem unmittelbaren wissenschaftlichen Umfeld als auch im allgemeinen Musikleben Straßburgs akzeptiert, zu dem er unter anderem als Gründer und Leiter des dortigen Akademischen Gesangsvereins beitrug.
Dennoch gibt diese Biografie – deren Titel treffend Glück und Misere eines Musikforschers heißt – wichtige Aufschlüsse auch über die engen Grenzen und die Schattenseiten dieser „Symbiose“, die sie eher als Wunschdenken der späteren Generationen erscheinen lässt. Denn die vielen deutsch-jüdischen Künstler und Wissenschaftler, Unternehmer und Freiberufler wurden von der deutschen Gesellschaft nicht als Juden, sondern trotz ihres Judentums akzeptiert. Je weniger diese Menschen dabei mit dem Judentum zu tun hatten, desto größer waren ihre Chancen, akzeptiert zu werden. Die zunehmende Entfremdung der deutschen Juden der damaligen Zeit gegenüber ihren kulturellen Wurzeln und ihren eigenen Traditionen, sowie die umfassende Akkulturation, die häufig die Grenze zur Assimilation bis hin zur vollständigen Verleugnung eigener Identität überschritt, waren also nicht nur Folge einer natürlichen Anpassung, sondern auch ein erzwungener, gewissermaßen erpresster Prozess.
Auch im Leben Gustav Jacobsthals, der einer traditionsbewussten jüdischen Familie aus Pyritz in Pommern entstammte, spielte das Judentum nur eine sehr untergeordnete Rolle. Sein Versprechen, seinem Glauben treu zu bleiben und nicht zu konvertieren, das ihm seine Mutter einst abgenommen hatte, hielt er zwar ein. „Er gab dem deutsch-christlichen Assimilationsdruck nur so weit nach, dass er sich ein von antisemitischen Anfeindungen und Benachteiligungen möglichst wenig beeinträchtigtes Leben, Lehren und Forschen ermöglichen konnte“ (S. 8), so Peter Sühring. Das war damals für einen Juden wahrlich ein schwieriger Balanceakt, an dem nicht wenige jüdische Persönlichkeiten zerbrachen. Gustav Jacobsthal ist dieser Balanceakt offenbar gut gelungen. Ein Preis dafür war allerdings nicht zuletzt das Schicksal seines ältesten Sohnes Walther, der nach einem Mathematikstudium Schuldirektor in Berlin wurde, zum Christentum konvertierte und sich eine „äußerst nationale Gesinnung“ aneignete. Nach der Machtübernahme Hitlers begrüßte Walther Jacobsthal zunächst das neue Regime, das auch seiner militaristischen Einstellung entsprach, – bis er selbst von antisemitischen Maßnahmen betroffen wurde und sich schließlich gezwungen sah, Deutschland zu verlassen. In den USA legte er sich dann einen anderen Namen zu, um die von ihm als peinlich empfundene jüdische Abstammung zu verbergen.
Das posthume Schicksal seiner Forschungen konnte Gustav Jacobsthal ebenfalls nicht mehr beeinflussen. Die wertvollen Ansätze, die die Theorie und Aufführungspraxis der frühen christlichen Musik hätten bereichern können, wurden von Jacobsthals Schülern zugunsten dogmatischer und eindimensionaler Auslegungen verworfen, die diese Musik unter anderem um ihre chromatische Komponente brachten. Erst 2011, fast 100 Jahre nach Jacobsthals Tod, erschien ein vom Vatikan autorisierter Band, in dem ursprüngliche, ausdrucksstärkere Versionen der mittelalterlichen Choräle abgedruckt wurden – eine Ausgabe, die sich weitgehend auf die Forschungen von Jacobsthal stützte. Sein Name wurde dabei jedoch nicht erwähnt.
Jascha Nemtsov
Berlin, 29.12.2014