E. Kleßmann: Die Mendelssohns. Bilder aus einer deutschen Familie; J. Forner: Das Wunder Mendelssohn. Poträt eines großen Musikers

Kleßmann, Eckart: Die Mendelssohns. Bilder aus einer deutschen Familie. – Frankfurt: Insel, 2009. – 315 S.: zahlr. s/w-Abb.
ISBN 978-3-458-33223-7 : € 10,00 (Pb.)

Forner, Johannes: Das Wunder Mendelssohn. Porträt eines großen Musikers. – Leipzig: Faber & Faber, 2009. – 284 S.: Ill.
ISBN 978-3-86730-090-2 : € 17,90 (geb.)

Auf den ersten Blick unterscheiden sich beide sehr lesenswerte Titel durch den Gegenstand – bei Kleßmann stehen drei Generationen der Mendelssohns im Fokus – angefangen bei Moses Mendelssohn und endend bei dessen Enkeln, Forner konzentriert seine Sichtweise auf Felix Mendelssohn Bartholdy allein. Bei etwa gleichem Umfang ergibt sich der Eindruck von selbst, daß im Falle Kleßmanns der Person des Komponisten weniger Aufmerksamkeit geschenkt werden kann als bei Forner, der überdies fast ohne Abbildungen auskommt, während Kleßmann den Untertitel programmatisch versteht und seine Ausführungen auch umfangreich bebildert. Beiden gemeinsam ist jedoch die Intention, auf sprachlich hohem Niveau ein breites Publikum zu fesseln und für ihre Perspektiven zu gewinnen. Beide Autoren verbindet ihre systemische Sichtweise, die im Fall von Felix Mendelssohn Bartholdy seine Person in der familiären, gesellschaftlichen und religiösen Verankerung verortet. Die Entwicklung Mendelssohns zu einem der berühmtesten Musiker seiner Epoche, seine Multibegabung als versierter Zeichner und Aquarellist muß im Zusammenhang mit seiner Herkunft und seinem soziokulturellen Umfeld gesehen werden.
Kleßmann schenkt diesem Umstand seine besondere Aufmerksamkeit. Erwähnenswert in diesem Zusammenhang ist die Tatsache, daß das Buch Kleßmanns bereits 1990 unter demselben Titel im Artemis-Verlag München erschienen ist. Soweit mir zugänglich konnte ich allerdings keine nennenswerte Reaktion darauf in der Fachliteratur finden, vermutlich deshalb, weil sich hier ein Autor des Themas angenommen hat, der nicht explizit aus der Musikwissenschaft kommt. Das ist schade, denn der von außen auf das Thema geworfene Blick des vielfach bewanderten und vielseitig tätigen Publizisten wirft interessante Schlaglichter auf religions- und kulturgeschichtliche Entwicklungen und befaßt sich mit Frauenemanzipation und Pressewesen. Da ist der Stammvater Moses Mendelssohn und seine Geschichte als die eines Menschen, der in der damaligen Gesellschaft aufstieg ohne seinen jüdischen Glauben zu verleugnen. Diesem beispiellosen Vorgang zollt man um so mehr Respekt, als man weiß, daß zu damaliger Zeit Juden als Menschen 2. Klasse galten und Moses darüber hinaus verwachsen und unansehnlich war und Zeitgenossen zufolge stotterte. Sein gesellschaftlicher Aufstieg zur unangefochtenen Geistesgröße seiner Zeit, zur Leitfigur des Toleranzgedankens war neben seiner überragenden Intelligenz auch einer eisernen Disziplin geschuldet, einem unstillbaren Bildungshunger sowie seinem Charisma, dem sich kaum jemand zu entziehen vermochte. Auch war er für damalige Verhältnisse außerordentlich gut vernetzt – alles Umstände, die – so sehen es beide Autoren – vor allem für seinen Enkel Felix geradezu paradigmatisch waren. Wenn man sich vergegenwärtigt, daß dieser in seinem kurzen 38-jährigen Leben über 900 Kompositionen, 250 Zeichnungen, 50 Aquarelle und bis zu 7.000 (überlieferte) Briefe vorgelegt hat, als gefeierter Interpret, Pädagoge und Organisator tätig war, europaweit reiste (allein 9mal nach England), eine Familie gründete, Gründungsrektor der Leipziger Musikhochschule war, in seiner Leipziger Zeit temporär sogar der Doppelfunktion des Gewandhausdirigenten und des Königlich Preußischen Kapellmeisters König Friedrich Wilhelms IV. nachkam, hat man Mühe, sich dieser atemberaubenden Beschleunigung eines Musikerlebens zu entziehen. Auch andere Mitglieder dieser hochinteressanten Familie kommen zu Wort, wenn auch nicht lückenlos biographisch oder nur entlang der Chronologie der Ereignisse. Dorothea Veit, nachmalige Dorothea Schlegel und Tante von Felix, sein Vater oder seine Geschwister Fanny, Rebecca und Paul sprechen durch Briefe und Schilderungen von Zeitgenossen direkt zu uns, so daß ein facettenreiches Bild entsteht.

Forner, emeritierter Professor der Leipziger Musikhochschule und ausgewiesener Kenner der Musik des 19. Jahrhunderts, schenkt der individuellen Sonderform der Begabung Felix’ intensive Aufmerksamkeit. Schon die Ausgangssituation unterscheidet sich grundlegend von der anderer Komponisten seiner Generation wie beispielsweise Schumann, Liszt oder Wagner. Die finanziell abgesicherten Verhältnisse einer einflußreichen Familie, die im Rahmen der Tradition und einer aufgeklärten Toleranz ihren Kindern alle nur denkbaren Möglichkeiten umfassender Bildung erschließen konnte, waren sicher einzigartig. Und allein schon der Vergleich mit seinem Antipoden Wagner, der ihn auch noch um 36 Jahre überlebte, hinkt. Von der ideologischen und charakterlichen Disposition einmal abgesehen, lassen sich beide Komponisten nicht gegeneinander ausspielen: genial der eine als absoluter Musikdramatiker und ebenso genial der andere in seiner Universalität. Was Forner interessiert, ist die große Spannweite der Mendelssohn-Rezeption, die innerhalb eines Jahrhunderts „vom größten lebenden Komponisten bis zur erklärten Unperson“ alle Gefährdungen beschreibt, denen Mendelssohns Geist ausgesetzt war. Die Ambivalenz dieser in der Öffentlichkeit wie in der Musikwissenschaft vorhandenen Position läßt sich noch daran ablesen, daß 1974 ein Buch mit dem Titel Das Problem Mendelssohn (hrsg. von C. Dahlhaus) erschien. Forner widerlegt die Etikettierung Mendelssohns als allzu glatten, gefälligen Klassizisten und wenig visionären Komponisten eindeutig und entlarvt die gängigen Vorstellungen als Klischees, die dem erstarkenden Antisemitismus bis weit ins 20. Jahrhundert hinein zuzuschreiben sind. Mißverständnisse sind auch der epigonalen Verwässerung seiner genialen Klavier- und Chormusik durch nachfolgende Komponistengenerationen zuzuschreiben, die über die entsprechenden Stilmittel nicht verfügten und die Formen nicht mit neuem Leben erfüllen konnten.

Claudia Niebel
Zuerst veröffentlicht in FORUM MUSIKBIBLIOTHEK 30 (2009), S. 349f.

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