Geschichte der Kirchenmusik in vier Bänden / Hrsg. von Wolfgang Hochstein und Christoph Krummacher, mit einem Vorwort von Wolfgang Hochstein und Christoph Krummacher.
Laaber: Laaber, 2011ff (Enzyklopädie der Kirchenmusik ; I/1–I/4); nur geschlossen zu beziehen
3. Das 19. und frühe 20. Jahrhundert. Historisches Bewusstsein und neue Aufbrüche. 2013. – 398 S.: 67 s/w-Abb., 73 Notenbsp. ISBN 978-3-89007-753-6
Auch der dritte Band der Geschichte der Kirchenmusik entspricht voll und ganz der auf dem Umschlag-Klappentext erklärten Konzeption der Herausgeber: den LeserInnen resp. NutzerInnen „in gleicher Weise als Lehr- und Handbuch wie als Nachschlagewerk“ zu dienen. Insgesamt 23 AutorInnen, sie alle ausgewiesene Spezialisten – Musikwissenschaftler, Theologen und praktizierende Kirchenmusiker, Historiker und Liturgiewissenschaftler – sind an diesem dritten Band beteiligt. Damit ist gewährleistet, dass die Kirchenmusik auf dem Hintergrund der jeweiligen „politischen, geistes- und kirchengeschichtlichen Entwicklungen“ (S. 11), aber auch der kultur- und kunstgeschichtlichen Zusammenhänge dargestellt wird. Den beiden Hauptkapiteln „Zwischen ‚Romantik’ und ‚Historismus’. Das 19. Jahrhundert“ und „Die Zeit der Umbrüche und ‚Bewegungen’ (ca. 1900 bis 1945)“ ist ein kurzer Abriss der jeweiligen politisch-sozialen, aber auch der theologisch-philosophischen, ästhetisch-theoretischen und allgemein musikgeschichtlichen Situation vorangestellt. Es folgen im 1. Hauptkapitel eine Betrachtung der „Geistlichen Musik als ästhetischem Problem“ sowie die Beschreibung und Einordnung der verschiedenen „gottesdienstlichen Formen“. Das breite und sehr unterschiedlich akzentuierte Spektrum zwischen Restauration und Romantik, die Auseinandersetzungen um die „Weiterentwicklung des gregorianischen Repertoires“ und um „Kirchenlied und Gesangbuch“ werden differenziert dargestellt. Klar und auch dem Laien verständlich erörtern die Autoren in den beiden Unterkapiteln: „Kirchenmusikreform, Cäcilianismus und Palestrina-Renaissance“ (S. 56-71) und „Die ‚ältere’ evangelische liturgische Bewegung und ihre Vorläufer“ (S.72-78), die jeweils themenrelevanten Fakten und Aspekte. Unter Einbeziehung der theologisch-philosophischen Auseinandersetzungen und der musikästhetischen Diskussionen zwischen „Neudeutschen“ und „Klassizisten“ wird die damals relevante Frage um die „wahre Kirchenmusik“ (S.80) diskutiert. Den in diesen acht Unterkapiteln dargestellten kirchenmusikalischen Entwicklungen folgen sechs kurze Analysen mit entsprechenden Notenbespielen zu den das 19. Jahrhundert dominierenden Gattungen (Messe, Requiem, Te Deum u.a., evangelische Kirchenkantate, Oratorium und Orgelmusik). Zehn Porträts (u.a. Luigi Cherubini, Ludwig van Beethoven, Franz Schubert, Felix Mendelssohn Bartholdy, Johannes Brahms, Max Reger), jeweils mit Hinweisen zu Notenausgaben und entsprechender Literatur, ergänzen das Kapitel über das 19. Jahrhundert.
Unter sieben verschiedenen Aspekten werden im zweiten Hauptkapitel die Umbrüche und Bewegungen innerhalb der Kirchenmusik im 20. Jahrhundert bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs und kurz danach erörtert. In den Unterkapiteln wird der Bogen vom „kirchenmusikalischen Gesetzbuch von 1903“ (S. 222), dem „Motu proprio“ Papst Pius X., das dem „Endpunkt einer Entwicklung […], die aus den Bewegungen der Restauration und Romantik hervorgegangen war“ (S. 223), entsprach, bis zur politischen Dimension der einzelnen kirchenmusikalischen Gruppierungen unter dem Einfluss des Nationalsozialismus geschlagen. Spannend liest sich die sorgfältig recherchierte „Zeit der Umbrüche und ‚Bewegungen’“ (S.231-245), insbesondere aber die hier sachlich geführte, nichts desto trotz konsequente Auseinandersetzung mit der Haltung Oskar Söhngens nach der Machtergreifung Hitlers 1933 und nach dem Ende des Zweiten Weltkrieg 1945. „Es hat lange gedauert, bis sich in der Geschichtsschreibung der Kirchenmusik ein kritischer Umgang mit der nationalsozialistischen Vergangenheit durchsetzen konnte. Erst Ende der 1980er Jahre […] begann sich die Sicht auf die kirchenmusikalische Erneuerungsbewegung zu verändern“, resümiert der Autor Sven Hiemke (S.241). Diese Veränderung spiegelt sich in vorliegenden Texten wieder. Auch in diesem Hauptkapitel werden einzelne Gattungen mit Notenbeispielen analysiert: Lateinische und landessprachliche Kirchenmusik, Oratorium, Orgelmusik sowie französische, englische und skandinavische Kirchen- und Orgelmusik sowie Kirchenmusik aus Nord-Ost-Europa. Sechs Porträts (Frank Martin, Johann Nepomuk David, Ernst Pepping, Hermann Schroeder, Hugo Distler, Benjamin Britten) schließen sich mit den jeweiligen Hinweisen auf Notenausgaben und spezieller Literatur an.
Erfreulicherweise befinden sich die jeweiligen Anmerkungen zu den einzelnen Abschnitten auf den entsprechenden Seiten; zudem gibt es zu jedem Unterkapitel ausführliche Literaturhinweise. Ein Namens- und Sachregister, das erst für den vierten, noch ausstehenden Band dieser Geschichte der Kirchenmusik angekündigt ist, wäre dagegen bereits hier dienlich gewesen. Dankbar ist hervorzuheben, dass sich die Autoren – selbst bei kompliziertem Sachverhalt – der Spezialistensprache enthalten haben, so weit das bei dem Thema überhaupt möglich war. Mit Spannung wird der vierte und letzte Band: Die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts und die Herausforderungen der Gegenwart dieser so verdienstvollen Geschichte der Kirchenmusik erwartet.
Ingeborg Allihn
Berlin, den 26. 05.2013