Geschichte der Kirchenmusik in vier Bänden / Hrsg. von Wolfgang Hochstein und Christoph Krummacher, mit einem Vorwort von Wolfgang Hochstein und Christoph Krummacher.
Laaber: Laaber, 2011ff (Enzyklopädie der Kirchenmusik ; I/1–I/4); nur geschlossen zu beziehen
1: Von den Anfängen bis zum Reformationsjahrhundert. 2011. – 352 S.: 112 s/w-Abb., 80 Notenbsp. ISBN 978-3-89007-691-1
2: Das 17. und 18. Jahrhundert. Kirchenmusik im Spannungsfeld der Konfessionen. 2012. – 341 S. : 55 s/w-Abb., 44 Notenbsp. ISBN 978-3-89007-752-9
Mit zwei Bänden der auf vier Bände angelegten Geschichte der Kirchenmusik präsentiert der Laaber-Verlag dieses – wie die Herausgeber das Vorhaben in ihrem Vorwort zu Recht charakterisieren – „ambitionierte Projekt einer sechsbändigen Enzyklopädie der Kirchenmusik“. (S. 9) Sie schließt den ebenfalls kürzlich erschienenen Band 2 Zentren der Kirchenmusik genauso mit ein wie die geplanten Bände 3 bis 6 (Band 3: Der Kirchenmusiker. Berufe – Institutionen – Wirkungsfelder; Band 4: Der Gottesdienst und seine Musik; Band 5: Bild und Raum der Kirchenmusik; Band 6: Lexikon der Kirchenmusik in 2 Bänden). Der Start ist, um es gleich vorweg zu sagen, außerordentlich gelungen. Beide Bände der Geschichte der Kirchenmusik spiegeln das in den vergangenen 50 Jahren grundsätzlich veränderte allgemeine und wissenschaftliche Verständnis vom Gegenstand als integralem Bestandteil der allgemeinen Musikgeschichte wider. Zudem zeigt sich in den vorliegenden zwei Bänden, dass die Sicht auf das kirchenmusikalische Repertoire der verschiedenen Epochen eine andere Gewichtung bekommen hat. Neben bislang nur peripher erwähnten Gattungen werden nicht nur die „klassischen“ europäischen Regionen sondern auch außereuropäische Länder, Traditionen und Praxisfelder wie z. B. die byzantinische oder die orthodoxe Musik berücksichtigt. Wer heute eine Geschichte der Kirchenmusik schreiben will, muss die eurozentristische Brille absetzen. Stattdessen bedarf es eines internationalen und vor allem eines interkonfessionellen bzw. ökumenischen Blicks auf den Gegenstand. Die an beiden Bänden beteiligten 41 Autoren – Musikwissenschaftler, Historiker und Theologen, Liturgiewissenschaftler, Hymnologen und praktizierende Kirchenmusiker – beweisen nachdrücklich, dass sich die miteinander vielfältig verknüpften kirchenmusikalischen Bereiche nur auf diese Weise überzeugend darstellen lassen.
Die fünf Hauptkapitel in den beiden Bänden folgen – angemessen modifiziert – der durch die allgemeine Musikgeschichte eingeführten Epochengliederung. Im 1. Band werden drei Hauptkapitel abgehandelt: Kirchenmusik im ersten Jahrtausend; Vom Mittelalter zur Neuzeit (ca. 900 bis ca. 1500); Reformation und Gegenreformation (bis 1600). Der 2. Band enthält zwei Hauptkapitel: Das Zeitalter des konzertierenden Stils (1600 bis ca. 1730); Von der Aufklärung zur musikalischen Klassik (ca. 1730 bis 1800). Jedes Hauptkapitel beginnt mit der Darstellung der allgemeinen historischen Situation in dem entsprechenden Zeitabschnitt. Es folgt die Erläuterung der Zusammenhänge zwischen Geistes-, Kunst- und Kirchengeschichte. Besonderes Augenmerk gilt hierbei der Verflechtung von allgemeiner musikgeschichtlicher und kirchenmusikalischer Entwicklung einschließlich der Orgelmusik sowie der unterschiedlichen gottesdienstlichen Formen und liturgischen Gegebenheiten. Auch gegensätzliche Positionen innerhalb der Forschungsgeschichte kommen des Öfteren zur Sprache. So referiert z. B. Jochen Arnold im Beitrag zu den Liturgischen Reformen im Hauptkapitel Reformation und Gegenreformation (bis 1600) divergierende Deutungen zu Luthers reformatorischem Gottesdienstverständnis, um dann die eigene These vorzutragen: „Entscheidend für Luther und seine Mitstreiter war nicht ein radikaler Bruch mit der F o r m der römischen Messe, insbesondere nicht mit dem Ordinarium, sondern mit ihrem V e r s t ä n d n i s als eines kirchlichen Werkes, ‚damit Gottes Gnade und Seligkeit zu [er]werben’ (Luther).“ (S. 228)
Es folgen Analysen der für die jeweiligen Hauptkapitel relevanten Gattungen mit z. T. ausführlichen Notenbeispielen. Ob Gregorianischer Choral, Byzantinische Musik oder Organum und Conductus, ob Magnificat, Motette oder Messe, Passionsvertonungen oder Musik im anglikanischen Gottesdienst, protestantische Kirchenkantate, französische Sonderformen der Kirchenmusik oder Orgelmusik und gottesdienstliche Instrumentalmusik, fast immer gelingt es den Autoren, die mitunter komplizierten Sachverhalte so allgemeinverständlich wie möglich zu beschreiben und die nur Insidern vertrauten Termini zu erklären. Da es kein Glossar gibt, wird das angekündigte und hoffentlich bald vorliegende Lexikon der Kirchenmusik bei der Lektüre hilfreiche Dienste leisten. Innerhalb der einzelnen Gattungsbeiträge erörtern die Autoren den geistesgeschichtlichen Hintergrund und die relevanten liturgiewissenschaftlichen Aspekte genauso wie theologische Gesichtspunkte, satztechnische und stilistische Besonderheiten. Zahlreiche Literaturverweise in den Anmerkungen und das jedem einzelnen Beitrag angefügte ausführliche Literaturverzeichnis reflektieren den derzeit aktuellen Forschungsstand. Einzelne, mit kräftigen Strichen >gezeichnete< Porträts von einigen der bedeutendsten Kirchenmusikkomponisten beschließen das jeweilige Hauptkapitel. Zu finden sind u. a. John Dunstable (um 1390–1453), Guillaume Dufay (1397–1474), Josquin Desprez (um 1450–1521), Johann Walter (1496–1570), Orlando di Lasso (ca. 1532–1594), Claudio Monteverdi (1567–1643), das Dreigestirn Bach-Händel-Telemann, Johann Adolf Hasse (1699–1783) und Wolfgang Amadeus Mozart (1756–1791), um nur einige zu nennen. Die einzelnen Porträts werden ergänzt durch Hinweise auf Ausgaben und Spezialliteratur.
Diese beiden Bände der Geschichte der Kirchenmusik besitzen einen unschätzbaren Vorteil: Sie können einerseits als eine fortlaufende Historie studiert werden, angefangen in der Zeit des Urchristentum und bislang endend im Jahr 1800. Andererseits jedoch lassen sich die einzelnen Beiträge auch quer oder selektiv lesen. Ein Vergnügen ist die Lektüre in jedem Fall!
Ingeborg Allihn
Berlin, 24.07.2012