Nachmanovitch, Stephen: Free Play. Kreativität geschehen lassen / Aus dem Engl. von Dan Richter. – München: O.W. Barth (Verlagsgruppe Droemer Knaur), 2013. – 271 S., zahlr. Ill.
ISBN 978-3-426-29216-7 : 19,99 Euro (geb.)
Stephen Nachmanovitch ist Musiker und bildender Künstler. Vor einem knappen Vierteljahrhundert veröffentlichte er in seiner amerikanischen Heimat Überlegungen zum Wesen der Improvisation. Nun erscheint der Band, den der Ausnahmepianist Keith Jarrett als „das wichtigste Buch“, das er je zu diesem Thema gelesen habe (Klappentext), bezeichnet hat, in einer deutschen Neuauflage. Erstmalig wurde Free Play hierzulande unter dem Titel Das Tao der Kreativität: Schöpferische Improvisation in Leben und Kunst 2008 auf den Markt gebracht. Dieser Titel ist ebenso Programm wie das Erscheinen im traditionsreichen Verlag für spirituelle Literatur O.W. Barth: Improvisation verortet Nachmanovitch nicht in einer bestimmten Stilnische, auch wenn das freie Spiel im Jazz noch allgegenwärtig ist und in der klassischen Musik eine große Vergangenheit hat. Der Autor denkt das Thema weiter: Improvisation ist ein Bestandteil unseres Lebens, der bereits im Sprechakt hörbar wird. Und die zugrunde liegende Kreativität, Voraussetzung für jede Art von Improvisation, ist ein im Inneren des Menschen verborgener Schatz, der – gleich der Skulptur eines Bildhauers – freigelegt werden muss.
In kurzen und übersichtlichen Kapiteln, angereichert durch sinnfällig ausgewählte Zeichnungen, Gemälde und Fotos, steckt Nachmanovitch sorgsam das Terrain ab. Der Autor betrachtet unser Verhältnis zum Fluss der Zeit, fragt nach den Musen der Antike und schaut Kindern beim Spielen zu. Nach diesen Quellen der Kreativität wendet er sich den aktiven Handlungen zu: Übung, Grenzen, Fehler und das Zusammenspiel sind Bestandteile dieses Schaffensprozesses. Den Blockaden mit ihren Teufelskreisen, aber auch den Lösungsansätzen (Ergebenheit, Geduld und Reifung) ist das dritte Großkapitel gewidmet, bevor der Autor sich im letzten Teil mit den Ergebnissen der Kreativität beschäftigt (Eros, Schöpfung, Qualität, Kunst).
Für Nachmanovitch ist der kreative Prozess ein spiritueller Weg (S. 24). Reisebegleiter findet er bei einflussreichen Philosophen und den großen geistes- und religionsgeschichtlichen Meistern, die er ausgiebig zitiert. Dieser Beistand mag den Leser bisweilen ebenso überfordern wie Nachmanovitchs Theorie, der durch Improvisation hervorgerufene Geisteszustand sei eine „Angelegenheit von Leben und Tod“ (S. 34). Die Lebenswirklichkeit der Menschen, deren Alltag nicht in der Erschaffung von Kompositionen, Filmen oder Büchern besteht, scheint er mit diesem Ansatz zu übergehen. Indem Nachmanovitch jedoch versucht, das kreative Element in jedem von uns zu befreien, können die Früchte dieses Prozesses im gewöhnlichen wie auch im genialischen Leben zutage treten. Nicht zuletzt ist es die klare und gelungene Übersetzung von Dan Richter, die den Leser ermuntert, die Gedanken Nachmanovitchs in die Tat umzusetzen. Keith Jarrett darf sich nicht geirrt haben.
Michael Stapper
München, 21.02.2013