Dörner, Wolfgang: Joseph Lanner. Chronologisch-thematisches Werkverzeichnis. – Wien: Böhlau, 2012. – 745 S. (zahlr. Notenbsp.)
ISBN 978-3-205-78793-8 : € 69,00 (geb.)
Große Werkverzeichnisse informieren nicht nur über die bekannten Schöpfungen eines Komponisten, sondern dokumentieren darüber hinaus noch Bereiche des Schaffens, die weitgehend oder gänzlich unbekannt geblieben sind. Eigentlich durfte man vergleichbare Entdeckungen auch aus diesem opulenten Schwergewicht über Joseph Lanner erwarten, doch bis auf die Musik zu Carl Meisls Zaubermärchen Der Preis einer Lebensstunde (1836) gibt es nichts für Gesang, und ein zweisätziges Streichquartett (vermutlich 1828 entstanden) ist sein einziger Beitrag zum „seriösen“ Genre. Dafür wimmelt es nur so von Walzern, Ländlern, Quadrillen, Galoppen, Märschen, Potpourris (meist nach gerade populären Opern) und allerlei sonstigen Bearbeitungen fremder Werke. Allerdings handelt es sich dabei um höchst aufschlussreiche Zeugnisse einer einstmals ungemein populären, von der elitären Arroganz der akademischen Musikgeschichtsschreibung dafür um so länger vernachlässigten Vergnügungskultur, bei der man nur allzu gern übersieht, dass es hier – ebenso wie in der „Hochkultur“ – gewaltige Qualitätsunterschiede gibt: Nicht ohne Grund ist Lanner heute noch bekannt, während zeitgenössische „Kollegen“ wie Carl Bendl oder Franz Morelly längst vergessen sind. Und doch ist die Wirkungsgeschichte Lanners sehr beeinträchtigt: „Gute Nacht Lanner! Guten Abend Strauß Vater! Guten Morgen Strauß Sohn!“ – so brachte es eine Zeitung schon 1844 auf den Punkt, als mit Johann Strauß (Sohn) ein neuer Stern am Wiener Tanzmusikhimmel aufging. Mit seinen Walzern glaubte man gleichsam die Bodenhaftung zu verlieren, und sie überstrahlen bis heute die als vergleichsweise „bieder“ eingestuften Vorgänger.
Wolfgang Dörner, Generalsekretär der „Joseph-Lanner-Gesellschaft“ (Wien), hat nun ein akribisch aufbereitetes Werkverzeichnis von Joseph Lanner vorgelegt, in dem er aber nicht nur dessen gesamtes Schaffen dokumentiert (zuerst die Opera 1 bis 208, dann in chronologischer Abfolge knapp hundert ungezählte Einträge), sondern zuerst auf über hundert Seiten eine ausführliche biografische Würdigung sowie ein umfassendes Bild der Wiener Tanzszene in der 1. Hälfte des 19. Jahrhunderts vermittelt. Hierzu gehören u. a. die Besonderheiten dieses Genres bei der Überlieferung (nämlich die Parallelausgaben für die verschiedensten Besetzungen), die zahlreichen Etablissements, die Verlagssituation oder die Rezeption dieser Musik, und so entpuppt sich der Band fast schon wie ein Kompendium zu diesem Thema. Die Werke werden durch aussagekräftige Notenincipits vorgestellt, aus denen man zahlreiche Melodietypen erkennen kann. Daran schließen sich alle erforderlichen Daten an: Entstehungszeit, Uraufführung, Fundort des Autographs oder relevanter Abschriften, Erstausgaben, zeitgenössische Bearbeitungen, weitere Anmerkungen zur Werkgeschichte und Literaturhinweise. Leider hat man sich nicht zu Bildbeigaben entschließen können (z. B. von Autographen oder der oftmals prachtvollen Titelseiten), doch dafür ist der Preis des Bandes ungewohnt moderat ausgefallen.
Georg Günther
Stuttgart, 01.02.2013