Music’s Intellectual History / Hrsg. von Zdravko Blažeković und Barbara Dobbs Mackenzie. – New York: Répertoire International de Littérature Musicale (RILM), 2009. – 938 S.: Abb. (RILM Perspectives ; 1)
ISBN 978-1-932765-05-2 : $ 155,00 (geb.)
Dieser enzyklopädische Band geht zurück auf eine Konferenz, die das RILM International Center im Jahr 2005 abgehalten hat. Sie hatte den Titel Music’s intellectual History: Founders, Followers, and Fads und vereinigte eine große Anzahl von Musikhistorikern aus der ganzen Welt. Sie war von der Commssion mixte der kooperierenden Organisationen RILM, International Musicological Society (IMS), International Association of Music Libraries (IAML) und dem International Council for Traditional Music einberufen worden.
Mit dieser Konferenz und dem nun erschienenen Tagungsband, der eine neue RILM-Serie eröffnet, die den Titel RILM Perspectives trägt, scheint quasi eine Ära zu enden. Diese war davon geprägt, dass man die deutsche Musikkultur und auch die deutsche Musikwissenschaft und ihre Art der Musikgeschichtsschreibung für international maßgebend hielt. Diese jahrzehntelang anhaltende Modeerscheinung (auch eine der in diesem Band besprochenen fads) wurde ursprünglich von einer überheblichen und hegemonialen Gesinnung der Mehrheit der institutionell abgesicherten deutschen Musikologen verfolgt, später von vielen nichtdeutschen Musikologen freiwillig übernommen und ausgeführt.
Es ist vielleicht hier und jetzt einmal der richtige Ort und der richtige Zeitpunkt, von deutscher Seite aus das Ende dieser Periode zu begrüßen und sich erfreut und überrascht zu zeigen, wie reich und vielfältig die internationalen Traditionen in der Schreibung von Musikgeschichte in Wirklichkeit waren und sind.
Diese Vielfalt wird in 66 historiografischen Beiträgen in sechs Sektionen respektive Kapiteln dokumentiert, die ursprünglich (allerdings in zum Teil wohl stark gekürzter Form) Vorträge auf der genannten RILM-Konferenz (der ersten ihrer Art) waren. Eine, wie man in Deutschland sagen würde, Geistes- oder Ideengeschichte der oder über die Musik, welche die Leistungen von Musikgelehrten seit der Renaissance zusammenzufassen versucht, hat es bisher nicht gegeben. Darüber hinaus versucht dieser Band nicht nur einen Überblick zu geben, sondern liefert auch Detailstudien von Spezialisten. Die in diesem enzyklopädisch angelegten Sammelband beschriebenen und kommentierten Leistungen handeln über einen Zeitraum von der Antike bis zur Gegenwart und umspannen auch andere Kontinente außerhalb Europas. So kann man diese Publikation ihrem Charakter und ihrer Qualität nach (von einzelnen Einwänden abgesehen) als einzigartig bezeichnen.
Zwei Personen gewidmete Kapitel eröffnen den Band, das erste und größte ist für Musikgelehrte, das andere für Komponisten reserviert. Sebald Heyden, ein Gelehrter, der in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts lebte, wird als der vielleicht erste Musikhistoriker vorgestellt. Sicher wird man die Kette der Musikgeschichte schreibenden Personen immer weiter nach vorne schieben müssen, denn schon in der Spätantike gab es solche. Ein besonderes Gewicht hat ein über hundert Seiten langer Beitrag von Walter Kurt Kreyszig, der sich endlich einmal ausführlich mit dem humanistischen Bildungshintergrund beschäftigt, welcher sich allein schon in der Violinschule Leopold Mozarts auffinden lässt. Dieser Beitrag lässt erahnen, welch zentrale Bedeutung dieser in mehreren Auflagen verbreiteten Schrift in ihrer Zeit nicht nur für die persönlichen Schüler dieses Lehrers zukam.
Anton Schindler wird als ein die Pflichten eines Freundes und Historikers verletzender Nachlassverwalter Beethovens geschildert, der dessen Konversationshefte in ihrer ursprünglichen Gestalt zerstörte und fälschte.
Wie viele der Beethoven-Legenden damit zusammenbrechen und welche es im Einzelnen sind, müsste in einem zweiten Schritt dringend offengelegt werden. Ganz unerwartete Themen kommen zur Sprache: wie sich Musikgeschichte in den Werken des dänischen Dichter Andersen spiegelt, wie klug Saint-Saëns auch als Wissenschaftler war. Ein von Anna Maria Busse Berger gegebener, vergleichender Bericht über die beiden deutschsprachigen maßgeblichen Mediävisten des 20. Jahrhunderts, Friedrich Ludwig und Jacques Handschin, lässt (wahrscheinlich, weil er nur ein Nachdruck eines noch älteren Vortrags ist) neuere Erkenntnisse zum Verhältnis Ludwigs zu seinem Strassburger Lehrer Gustav Jacobsthal leider unberücksichtigt. Immerhin werden hier erstmals Widersprüchlichkeiten und Mängel in den Ansichten Friedrich Ludwigs nicht mehr verschwiegen.
Auch die große Bedeutung von Curt Sachs für die musikbezogene Museumstheorie und -praxis wird unter vielem anderem, das hier nicht genannt werden kann, dargestellt.
Das zweite Kapitel, das sich mit Komponisten beschäftigt, untersucht u. a. zwei sehr unterschiedliche Arten, J. S. Bach im 19. Jahrhundert zu edieren. Zweimal wird die zentrale Rolle, die Händel in der britischen Musikgeschichtsschreibung spielte besprochen, und auch die bis heute in Deutschland wenig bekannte Geschichte der Entwicklung Schönbergs in Amerika kommt zur Sprache; besonders sein unter dem Einfluss des wiedergewonnenen Judentums und der Politik stehendes, zum Teil nicht mehr atonales Spätwerk. Das Spektrum der sich anschließenden nationalgeschichtlichen Studien ist sehr weit gefasst, es umfasst Beiträge zur Musikgeschichte in der imposanten, alphabetischen Aufzählung aus: Afrika, Brasilien, Dänemark, Deutschland, Frankreich, Kroatien, Indien, Italien, Neuseeland, Rumänien, Serbien, Ungarn und den USA.
Interessante und neuartige Einblicke gewähren auch die Kapitel über Musiklexika und zeitschriften. Das berühmte Riemann-Lexikon, obwohl es einige Übersetzungen in nichtdeutsche Sprachen erfuhr, ist doch sehr auf die deutsche Tradition zentriert, ähnlich wie das von Grove in seinen Anfängen auf die britische. Der Beitrag, den die Allgemeine musikalische Zeitung im 19. Jahrhundert für das Entstehen einer modernen Musikwissenschaft und eines an den Idealen der Wiener Klassik orientierten musikalischen Kanons geleistet hat, wird zusammenfassend vorgestellt, ebenso die enorme Rolle der französischen revue musicale für die Begründung der modernen Musik, der ästhetischen Debatten und des Tanzes in den zwanziger und dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts. In einem letzten Abschnitt werden die verschiedenen Richtungen und Bezüge, die Historiografie und Musikologie zu anderen Künsten, zeitgenössischen Modeerscheinungen oder wissenschaftlichen Disziplinen einnehmen oder unterhalten, erörtert.
Dieses gehaltvolle und nur langwierig voll auszuschöpfende, großformatige, schön gestaltete und auf Dünndruckpapier hergestellte Buch erzählt von großen Umwälzungen in der Geschichte des Musikgelehrtentums und ist dadurch, dass es das historische Bewusstsein vertieft und verschärft, selber dazu angetan, weitere Umwälzungen herbeizuführen. Es sollte in keiner Musikbibliothek der Erde, in der Gelehrte ein- und ausgehen, fehlen.
Peter Sühring
Zuerst veröffentlicht in Fontes Artis Musicae 59 (2012), S. 81-83
Translation by Tina Frühauf:
This encyclopedic volume can be traced back to the conference Music’s Intellectual History: Founders, Followers, and Fads, which was held at the RILM International Center in 2005. Organized by a mixed committee of cooperating organizations—RILM, the International Musicological Society (IMS), the International Association of Music Libraries (IAML) and the International Council for Traditional Music (ICTM)—the conference united a large number of music historians from all over the world. With this conference and the recently published proceedings that inaugurate the new RILM series RILM Perspectives, an era nearly comes to an end. This era was shaped by the view that German music culture and German musicology, with its music-historiographical approach, is internationally authoritative. Originally a majority of German musicologists, who walled themselves safely within their institutions and displayed an arrogant and hegemonic attitude, followed this decades-long fad (one of the fads discussed in the volume), and many non-German musicologists voluntarily accepted it. Perhaps here and now is the right place and moment to welcome the end of this era, and to be pleased and surprised about the richness and diversity of international traditions in music historiography.
This diversity is documented in 66 historiographical contributions that were originally presented at the RILM conference (some in greatly abbreviated form), which was the first of its kind. An intellectual history—or history of ideas, as they say in Germany—that aims to summarize the achievements of music scholars since the Renaissance has not appeared before. In addition, the volume attempts to provide an overview, and includes detailed studies of specialists. The achievements described and analyzed in this encyclopedically conceived collection range from antiquity to the present, and include continents outside of Europe; thus this publication can be described as unique in its character and quality.
Sebald Heyden, a scholar who lived in the first half of the 16th century, is introduced as perhaps the first music historian. Surely the line of those individuals who have written music history will need to be pushed forward, as some appeared already in late antiquity. Walter Kurt Kreyszig’s over-100-page contribution is of special importance; he engages the humanist educational context, which was already evident in Leopold Mozart’s Versuch einer gründlichen Violinschule, in great detail. His contribution clarifies the central significance of this widespread work, which appeared in several editions during Mozart’s time and not only for his private students.
Anna Maria Busse Berger’s comparative account of the two German-speaking 20th-century medievalists Friedrich Ludwig and Jacques Handschin unfortunately does not consider more recent findings on Ludwig’s relationship to his Strassburger teacher Gustav Jacobsthal (probably because it was only a reprint of an older lecture). At least, inconsistencies and shortcomings in Friedrich Ludwig’s views are no longer concealed.
Anton Schindler is presented as Beethoven’s executor, who transgressed his duties both as a friend and as a historian, as he destroyed the master’s conversation books in their original form and falsified them. In a future second step, one would need to uncover how many Beethoven legends are consequently no longer valid. Some quite unexpected topics are discussed as well—for example, the reflection of music history in the writings of the Hans Christian Andersen, and how intelligent Saint-Saëns was as a scholar. Even the great importance of Curt Sachs for music-related museum theory and practice is discussed, among many other things not mentioned here.
The second section, which focuses on composers, examines two very different 19th-century approaches to editing Bach’s music. The central role that Handel played in British music historiography is discussed twice. The hitherto little-known history (at least in Germany) of Schoenberg’s development in America is also a topic—especially his late work, which to a great extent was no longer atonal and was influenced by politics and his renewed turn to Judaism. The spectrum of the subsequent national-historical studies is very broad; it includes contributions to the history of music from an impressive list of places: Africa, Brazil, Croatia, Denmark, France, Germany, Hungary, India, Italy, New Zealand, Romania, Serbia, and the United States.
The chapter on music dictionaries and magazines provides interesting and novel insights as well. The famous Riemann-Lexikon, although it was been translated into several languages, is very much centered on the German tradition, similar to Grove’s British focus in its early days. The contribution of the Allgemeine musikalische Zeitung in the 19th century to the emergence of a modern musicology and to a musical canon oriented toward the Viennese Classic is presented in summary, and the enormous role of the French Revue musicale for the foundation of modern music, aesthetic debates, and dance in the 1920s and 1930s is discussed. The last section explores the various directions and references of historiography and musicology in relation to other arts, contemporary trends, and scientific disciplines.
This book is rich in content, great in format, beautifully designed, and on thin paper, and will take a long time to be fully and exhaustingly explored. It tells of great upheavals in the history of music scholarship and, because it deepens and sharpens historical consciousness, it in itself can lead to further changes. The volume should not be missed or missing in any music library on earth in which scholars come and go.