Chopin, der Antistar

Chopin CoverChopin, der Antistar / hrsg. von Ute Jung-Kaiser und Matthias Kruse. – Hildesheim: Olms, 2010. – 319 S.: s/w Abb., Notenbsp. (Wegzeichen Musik ; 5)
ISBN 978-3-487-14331-6 : € 42,80 (kt.)
Allein aus europäischer Perspektive befassen sich mittlerweile mehr als 20.000 Titel mit dem Phänomen Chopin und doch ist die Musikwissenschaft in mancher Hinsicht nicht im Stande, grundlegende Fragen zu beantworten: das Geburtsdatum ist nach wie vor ungesichert (Taufschein, Angaben von Chopins Mutter und Chopins eigene Aussage widersprechen sich), über die Familien der Eltern weiß man nach wie vor wenig und es bleibt unklar, warum es Chopin im französischen Exil strikt vermieden hat, zu den Verwandten des Vaters Kontakt aufzunehmen. Etliche apokryphe Äußerungen Chopins in seinen Briefen sind nach wie vor nicht zu deuten und nicht zuletzt ist seine Todesursache nicht so gesichert, wie hinlänglich geglaubt wird: er wurde von mehreren Ärzten behandelt, die neben der Tuberkulose andere ursächlich in Frage kommende schwere Erkrankungen diagnostiziert hatten.
Chopin bleibt also rätselhaft und die im vorliegenden Band versammelten Essays befassen sich denn auch mit den Paradoxa, die Persönlichkeit, Lebens- und Kompositionsstil und soziale Bezüge multiperspektivisch zu erklären suchen. Chopins Leben war ein Leben der Gegenentwürfe: der Titel, der darauf hinweist, ist nichts anderes als der Ausdruck der Ambivalenzen, die es kennzeichnen. „Chopin war ein Inbegriff solcher [...] Inkonsequenzen, die ihre besondere Logik in sich tragen“ schrieb George Sand in ihrer Histoire de ma vie (1954). Es sind durchweg Experten ihres Fachs, die sich fächerübergreifend der Problematik nähern, allen voran die Herausgeber, die sich als Musikwissenschaftler eingehend mit Musik, ihrer Didaktik und den kulturellen Bedingungen des 19. Jahrhunderts befassen und die innerhalb der Reihe Wegzeichen auch die vorherigen 4 Bände verantworten. Analytische, zeitkritische, ästhetische oder psycho-pathographische Ansätze entwerfen ein fassettenreiches Bild des Komponisten. Der Nestor der Chopin-Forschung, Mieczyslaw Tomaszewski spürt in seiner umfangreichen Untersuchung die Brüche und Widersprüche im Leben des Komponisten auf, die nicht zuletzt ja auch von seinen Zeitgenossen und Künstlerfreunden thematisiert wurden. Die Herausgeberin zeigt in ihrem klugen Beitrag zur literarischen Rezeption Chopins und seines Oeuvres den enormen Widerhall des Visionärs bis ins 20. Jahrhundert hinein. Matthias Kruse beschäftigt sich in zwei spannenden Beiträgen mit den kulturellen und gesellschaftspolitischen Bedingungen der polnischen Romantik allgemein und geht im Besonderen der Mazurka als Ausprägung polnischer Volksmusik im Klavierwerk Chopins nach.
Es ist der interdisziplinäre Ansatz des Buches, der die Lektüre so faszinierend wie erhellend macht, weil er zu erklären sucht, inwieweit das Bild des Anti-Virtuosen ein Rezeptionsphänomen oder der Selbststilisierung des Komponisten geschuldet ist. Als Beitrag zum Jubiläumsjahr durch seine Vielschichtigkeit und Nüchternheit sehr zu empfehlen!

Claudia Niebel

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