Halay, Benjamin: Michel Petrucciani. Leben gegen die Zeit. Aus dem Franz. und neu bearb. von Karl Lippegaus – Hamburg: Edel, 2012. – 288 S.: s/w Abb.
ISBN 978-3-8419-0174-3 : € 29,95 € (geb.)
Sein Leben war ein einziger Kampf und ständiger Schmerz. Gleichzeitig genoss er es in vollen Zügen. Wie schon der gleichnamige, 2011 von Michael Radford gedrehte, Dokumentarfilm erzählt Benjamin Halay in Leben gegen die Zeit die ungewöhnliche Geschichte des französischen Jazzpianisten Michel Petrucciani, der 1962 mit der Erbkrankheit „Osteogenesis imperfecta“ – auch Glasknochenkrankheit – geboren wurde und bereits mit 36 Jahren an einer Lungenentzündung starb. Autor Halay, Musikwissenschaftler, Pianist, Komponist, Musikschulleiter und Gründer eines Jazzfestivals, begleitete ihn die letzten fünf Lebensjahre und fasste die Magie, die Petrucciani einst in seinen Konzerten versprühte, in Worte.
Infolge seiner Krankheit, unter der er von Geburt an leidet, ist Michel Petrucciani kaum größer als ein Kleinkind. Trotzdem schafft er es schnell, mit seinem musikalischen Talent die Umwelt zu begeistern. Während andere Fußball spielen, übt der behinderte Junge zwölf Stunden täglich am Klavier und gibt schon mit 13 Jahren sein erstes Jazzkonzert. Nur dank einer von seinem Vater gebauten Spezialvorrichtung kommt er überhaupt an die Pedale des Flügels oder Klaviers heran. Prägend sind in dieser Zeit sein italienischer Vater und seine Brüder, mit denen er auch später noch musiziert und zwischen denen echte Familienbande existieren. Im Alter von 18 Jahren trifft der junge Pianist in Kalifornien auf den Saxofonisten Charles Loyd und geht mit ihm auf Tournee – der Start in ein echtes Musikerleben, mit allem, was dazu gehört. In New York tritt Petrucciani schließlich mit den Jazzgrößen der Zeit auf: Dizzy Gillespie, Joe Lovano, Wayne Shorter und vielen anderen. Schon bald feiert man ihn für seine schillernde Persönlichkeit und sein brillantes Spiel.
Die einfühlsame Musikalität und ungewöhnliche Technik Michel Petruccianis, die sich in unglaublicher Geschwindigkeit und hohem Improvisationsvermögen niederschlugen, beeindruckten die Menschen weltweit. In Deutschland wurde Petrucciani durch seine Auftritte in der TV-Show Willemsens Woche (1994–1998) bekannt. Er wurde als erster Europäer vom legendären Label Blue Note unter Vertrag genommen, nahm über 30 CDs auf und erhielt zahlreiche Auszeichnungen. Doch das begnadete Genie versackte auch gern auf der „anderen“ Seite des Künstlerlebens und zwar ohne Rücksicht auf Verluste: Drogen- und Alkohol-Exzesse, diverse Frauengeschichten und zugleich regelmäßige Krankenhausaufenthalte prägen sein leider viel zu kurzes Leben.
In den insgesamt 20 Kapiteln, die nicht gerade chronologisch geordnet sind, kommen immer wieder Menschen zu Wort, die dem Pianisten nahestanden. Vor der eigentlichen Einleitung gibt es z. B. zur Einstimmung ein Essay von Schriftsteller und Journalist Roberto Saviano, anschließend ein Vorwort von seinem Sohn Alexandre Petrucciani, der seine Krankheit geerbt hat. Neben einer lebhaften und blumigen Sprache zeichnen ständige Lobeshymnen über Petrucciani – zweifelsohne berechtigt, jedoch manchmal vielleicht etwas zuviel des Guten – dieses Buch aus. Gleichzeitig wird immer wieder an sein tragisches Ende erinnert bzw. dieses vorweg genommen. Dass der Autor ihm wohl auch persönlich sehr nahe gestanden haben muss, ist unverkennbar. Abstruse Anekdoten sind es jedoch, die den Leser mit greifbaren Geschichten fesseln und so manches Lächeln auf die Lippen zaubern. Großen Raum nehmen die regelmäßigen Frauengeschichten ein, von denen der kleine Pianist nicht wenige gehabt haben soll. Spannende Interviews und eine ausgewählte Diskografie – zusammen gestellt von Musikwissenschafter und -journalist Karl Lippegaus, der auch die Übersetzung aus dem Französischen und die Neubearbeitung übernommen hat – machen die Publikation zu etwas Besonderem. Viele aussagekräftige Fotos machen die Person Petrucciani lebendig: den Mann, der ein schnelles und erfülltes Leben führte, während die Zeit gegen ihn arbeitete. Ein besonderer Leser-Leckerbissen: Jeder Käufer des Buches erwirbt automatisch eine E-Book-Version, die er sich kostenlos mit einem persönlichen Download-Code herunterladen kann.
Rebecca Berg
Frankfurt am Main, 09.12.2012