Rebellische Musik – Gesellschaftlicher Protest und kultureller Wandel um 1968 / Hrsg. von Arnold Jacobshagen und Markus Leniger. – Köln: Dohr, 2007. – 320 S.: 24 s/w-Abb.
ISBN 978-3-936655-48-3 : € 39,80 (geb.)
Musikkulturen in der Revolte – Studien zu Rock, Avantgarde und Klassik im Umfeld von „1968“ / Hrsg. von Beate Kutschke. – Stuttgart: Franz Steiner, 2008. ‑ 249 S.: 12 s/w-Abb.
ISBN 978-3-515-09085-8 : € 49,00 (kart.)
Vor 41 Jahren, 1967, begannen sich in den USA und einigen europäischen Ländern progressiv-revolutionäre Bewegungen zu etablieren, die die Gesellschaft nachträglich prägen und verändern sollten. Doch erst das Folgejahr lieferte die Ziffernreihung, die sich zunehmend inflationär auf Buchdeckeln, Magazinen und dokumentarischen Tonträgern findet: „1968“. 2008 wird die Leserschaft mit neuesten Erkenntnissen überrascht, u.a. über die Freundschaft von Rudi und Ulrike (Jutta Ditfurth, Droemer Verlag); darüber, dass „die 68er“ angeblich so schlimm wie die Nazis agierten (Unser Kampf, Götz Aly, Fischer Verlag), oder dass die nebulöse 3. Generation der RAF möglicherweise ein Konstrukt der Geheimdienste war, die als eigentliche Drahtzieher wirkten (Das RAF-Phantom, Gerhard Wisnewski u.a., Knaur Verlag). Wer danach Entspannung benötigt, kann sich im Bilderbuch der Kommune die Fotos von Uschi Oberweite, äh pardon, Obermaier, ansehen (Langhans/Ritter, Blumenbar Verlag). Die Revolution war eben immer auch POP und getragen von populären Strömungen der Musik der Zeit.
Nun liegen zwei Publikationen vor, die sich dem bislang vernachlässigten Thema „Musik und 1968“ widmen. Trotz unterschiedlichem Erscheinungsbild der Bände gingen sie aus gemeinsamer Quelle hervor: Sie können als Kongressberichte zweier interdisziplinärer wissenschaftlicher Tagungen betrachtet werden, die die Katholische Akademie Schwerte in den Jahren 2005 und 2006 ausgerichtet hatte. Beide Veranstaltungen wurden von den Herausgebern geleitet.
Das Buch von Jacobshagen und Leniger unterteilt das Untersuchungsfeld in drei Hauptkapitel: „Avantgarde“, „Populäre Musik“ und „Religion“ und versammelt darin die Texte von 22 Autorinnen und Autoren. Das Buch von Kutschke verzichtet auf eine Strukturierung durch Kapitel und präsentiert 17 Autorinnen und Autoren.
Alle sind bestens qualifiziert, um sich bezüglich der vielfältigen Aspekte zu Kern- und Randfragen der Thematik auf hohem Niveau (in einigen Fällen englischsprachig) gewachsen zu zeigen. Das Terrain wird hierbei auf unterschiedlichste Weise sondiert und es gibt Beiträge, die mit Musik wenig oder lediglich mittelbar zu tun haben und die dennoch unverzichtbar sind: z.B. Joachim Scharloths Abhandlung „Kommunikationsguerilla 1968“ (Kutschke-Buch, S. 187). Darin bietet der Autor eine Systematisierung von Strategien der Subversion der 68er-Bewegung nach semiotischen Kriterien und dem Leser damit die Möglichkeit zu prüfen, ob die Techniken der strategischen Umdeutung, Verfremdung, subversiven Affirmation und Rekontextualisierung auch beim Komponieren der neuen Avantgarde-Musik Anwendung fanden. Aufklärung darüber ist in Beiträgen zu finden wie z.B. Eric Drotts Text „Poor man´s musique concrète / Luc Ferrari´s tape music after 1968“ (Kutschke-Buch, S. 91) oder in Antje Tumats „Hans Werner Henzes Bassariden im Kontext der achtundsechziger Bewegung“ (ebd., S. 115).
Der Frage, ob der revolutionäre Elan jener Zeit ausreichte, um auch in Teilen der religiösen Musik für Aufbrüche zu sorgen, stellen sich Autoren wie z.B. Peter Hahnen mit „Gesungene (Kirchen-)Reform? Das Neue Geistliche Lied und sein Programm“ (Jacobshagen-/Leniger-Buch, S. 265) und Clytus Gottwald („Der religiöse Aufruhr in der Musik“, ebd. S. 291).
In etlichen Texten widmet man sich dann auch jener Musik, die den Soundtrack der bewegten Jahre lieferte, der Rockmusik, denn „Ev’rywhere I hear the sound of marching, charging feet, boy, ‚Cause summer’s here and the time is right for fighting in the street, boy“, wie 1968 die Rolling Stones in Street Fighting Man sangen oder wie es Jefferson Airplane 1969 in Volunteers formulierten: „Look whats happening out in the streets, Got a revolution got to revolution“. Im Kutschke-Buch sind dazu sehr lesenswert die Beiträge von Sebastian Werr („Friedliche Utopien und Kommerz – Die Musikkultur der Hippies“, S. 175) und Timothy Brown („The Germans Meet the Underground“: The Politics of Pop in the Essener Songtage of 1968“, S. 163), der u.a. unterstreicht, dass die Initiatoren des Essener Festivals nicht nur unterhalten wollten, sondern dass sie sich quasi durch Vordenker wie Marshall McLuhan als besonders legitimiert betrachteten! Im Jacobshagen-/Leniger-Buch findet man darüber hinaus Beiträge zur „Emanzipation im Jazz“ (Nina Polaschegg, S. 245), zu „Inszenierungen des Protestsängers“ (Ramón Reichert, S. 233) und zu einer „linken Blaskapelle um 1970“ (Peter Schleuning, S. 169).
Im Umkreis der 68er-Revolution wurden lebensreformatorisch-inspirierte Persönlichkeiten wiederentdeckt, wie z.B. der Schriftsteller Hermann Hesse. Zur „musikalischen Rezeption Hermann Hesses“ als „Proto-Hippie“ steuerte Magali Laure Nieradka einen Text bei (Kutschke-Buch, S. 153); ihr gelingt es, den nicht mehr ganz neuen Zusammenhang erhellend darzustellen und einige weiterführende Gedanken zu äußern.
Das Ziel, einen spartenübergreifenden Querschnitt zu bieten, der die Veränderungen musikalischer Institutionen aufzeigt, die Entwicklungen der Avantgarde-Musik schildert, den gesellschaftlichen Kontext in Teilbereichen analysiert und die Einflüsse offenlegt, die bis in die konservativ-klassische Musikszene reichen, ist in beiden Büchern bestens gelungen.
Die kultur- und musikwissenschaftlichen Konventionen, denen die Beiträge auf hohem Niveau folgen, behindern dabei keineswegs die Lesbarkeit. Die Lektüre der Bände macht Spaß, mit ihrer Herausgabe (und den vorausgehenden Tagungen) ist ein längst fälliger Schritt getan, der den Diskurs in vorbildlichster Weise eröffnet hat.
Manfred Miersch
Zuerst veröffentlicht in FORUM MUSIKBIBLIOTHEK 29 (2008), S. 362f.